Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
nicht möglich gewesen. Das noch größere Problem war freilich, dass die, die es schafften rüberz u kommen, in dem Moment, wo sie drüben waren, auf der anderen Seite als Seilhalter fehlten.
Ich blickte zu Maw hinüber. Er saß auf seiner Bank, eingemummelt in seinen Mantel, las sein Buch und schmauchte sein Pfeifchen. Er hatte es aufgegeben, uns zuzuschauen. Ich war müde, durchgefroren und ve r dreckt, aber das Schlimmste war die Enttäuschung. Ich glaubte nicht, dass Maw uns eine Aufgabe stellen würde, für die es keine Lösung gab. Ich dachte an unsere ganzen Konstruktionen, die wir in seiner Klasse gemacht hatten. Vielleicht lieferte ja irgendeine davon einen Hinweis für die Lösung unseres Problems.
»Unsere Zeit wird langsam knapp!«, merkte Trist an.
»Hat irgendeiner eine Idee?«, fragte Spink fast fl e hentlich. Es klang, als fordere er ganz offen die anderen dazu auf, mir das Kommando zu entziehen und unsere Patrouille zu retten. Es fühlte sich an, als stieße er mir ein Messer in den Rücken. Ich hob den Blick und starrte ihn an. In dem Moment trudelte, abgeworfen von irgende i nem unsichtbaren Vogel, eine schwarze Feder vom Himmel herab. Sie drehte sich spiralförmig, als s ie h e runterkam, mit dem Kiel nach unten, bohrte sich sauber in ein Stück weichen Schnees, und blieb aufrecht stehen. Sie bewegte sich sanft in dem eisigen Wind.
Die Erinnerung kam mit einem Schlag zurück. Ich stand mit Dewara am Rande des Abgrunds. Was hatte jene hauchdünnen magischen Brücken gehalten? Federn, in den Sand gesteckt, und Spinnenfäden. Ich hatte Holz, Pflöcke, einen Holzhammer, um sie in den Boden zu treiben, und stabiles Seil. Ich konnte meine Brücke in der Erde selbst verankern. Das Seil würde vielleicht gerade dafür reichen. Ich watete ein weiteres Mal durch den Bach und erklärte meinen Kameraden leise meinen Plan. Wenn er gelang, dann sollte der Erfolg allein uns geh ö ren.
Wir arbeiteten fieberhaft. Wir schnitten unsere Pflöcke zurecht, spitzten sie an, rammten sie in den Erdboden und befestigten unsere Seile daran. Da wir nur eine b e grenzte Anzahl an Werkzeugen hatten, musste ich noch mehrere Mal durch den Bach waten, um sie hin und her zu tragen. Als wir fertig waren, hatten wir zwei parallel verlaufende Seile, die so gerade noch den Bach übe r spannten. Unser kurzes Stück restlichen Seiles hatten wir aufgeflochten und damit die Querhölzer an den Seilen befestigt, die wir aus dem übriggebliebenen Holz g e schnitten hatten. Ein langes Stück hatten wir übriggela s sen, um es als Balancierstange zu benutzen. Ich trat ein paar Schritte zurück und betrachtete unsere »Brücke«. Sie sah so kümmerlich und wackelig aus, dass ich man befürchten musste, dass sie schon unter der Last eines Kaninchens einstürzen würde. Wir hatten sie kaum fe r tiggestellt, als Hauptmann Maw aufstand, seine Tasche n uhr hervorzog, daraufschaute und den Kopf schüttelte. »Noch fünf Minuten, meine Herren!«, kündigte er an. Von den anderen Patrouillen kamen Rufe der Bestürzung und Enttäuschung.
»Probier’s, Nevare!«, drängte Trist mich in ang e spanntem Flüsterton. »Wenn kein anderer außer uns r ü berkommt, könnte das reichen, um uns alle vor der Au s sonderung zu bewahren.«
Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ihn gehört hatte. Ich räusperte mich einmal und rief dann mit so fester Stimme wie ich konnte: »Sir, wir sind bereit rüberzugehen!«
»Aha?« Er sah mich mit einem seltsamen Blick an, und wieder hatte ich den Eindruck, er hätte am liebsten laut gelacht. »Nun, darauf habe ich gewartet. Nevares Patrouille, den Bach überqueren!« Er bellte es wie einen Befehl.
Spink, Oron und ich wateten ein letztes Mal auf die andere Seite. Wir wollten unser Werk nicht stärker bel a sten als unbedingt notwendig. Ich vermutete, wir würden die Brücke nur ein einziges Mal benutzen können, bevor sie einstürzte. Ich hoffte nur, der gütige Gott würde uns seine Gunst wenigstens so lange erweisen, bis der Letzte von uns drüben war. Zu diesem Zweck ließ ich sodann meine Männer der Größe nach Aufstellung nehmen. Spink würde als Erster gehen, Gord als Letzter. Ich sah an Gords Blick, dass er die Entscheidung zur Kenntnis nahm, aber wie immer sagte er nichts dazu.
Spink ging ganz leichtfüßig hinüber; fast tänzelte er von Brett zu Brett. Als er drüben angekommen war, warf er die Balancierstange wie einen Speer zu uns zurück. Oron ging als nächster rüber. Er war weniger
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