Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
an Epiny fesselte, war dünner und feiner. Mein Zauber hatte nicht die Kraft der Magie der Baumfrau. Aber wenigstens konnte ich hier selbst en t scheiden, was ich tun wollte. »Los!«, sagte ich und b e schrieb das Zeichen. Unverzüglich fand ich mich von Epiny befreit, aber tot war ich trotzdem. Plötzlich stand ich ebenfalls auf der Brücke. Die Menge schloss mich ein und hinderte mich am Vorwärtsschreiten. Sie schob sich langsam vorwärts, in winzigen Schritten. Ich kämpfte gegen die Loslösung an, die mich ergreifen wollte, gegen die Magie der Krankheit, die meinen Körper verzehrt hatte. Ich war hierher gekommen, um etwas zu tun. Im Gegensatz zu all den anderen war ich aus freien Stücken hierhergekommen. Rempelnd und drängelnd bahnte ich mir einen Weg durch die dichte Traube von Seelen.
Es erschien mir absurd und ungeheuerlich, dass eine Seuche ein Ruf sein konnte, dass die Baumfrau uns diese Seuche auf den Hals geschickt hatte, um ihre Magie g e gen uns zu richten. Es war schon schlimm genug, dass wir daran starben; noch viel schlimmer aber war, dass unser Tod uns zu einem Ort brachte, den unser Glaube nicht geschaffen hatte! Dies war nicht die sanfte Ruh e stätte, die der gütige Gott seinen Anhängern v erheißen hatte. Es erschien mir grausam, dass die, die treuen Glaubens gewesen waren, um ihren Lohn gebracht we r den sollten.
Entschlossen drängte ich mich durch die träge dahi n treibenden Seelen. »Halt!«, rief ich laut. »Spink! Komm zurück!« Er beachtete mich nicht. Über seinem Kopf schwebte Epiny und zerrte verzweifelt an dem Band an ihrem Handgelenk. Spink kam zum Ende der Brücke, betrat das Reich der Baumfrau und begann seinen lan g samen Aufstieg den geschändeten Hang hinauf. Er war nicht stehengeblieben, aber andere hatten sich auf meinen Ruf hin zu mir umgedreht, um mich anzuschauen. »Kommt zurück!«, flehte ich sie an. »Dieser Ort ist nichts für euch. Kehrt in eure Körper zurück. Geht z u rück zu euren Lieben.«
Ein paar Geister hielten inne und schauten mich ve r wirrt an, als hätten meine Worte ihre bereits verblassende Erinnerung noch einmal wachgerufen. Doch nachdem sie mich kurz gemustert hatten, wandten sie sich wieder um und schlurften weiter. Meine Geduld war jetzt zu Ende. Ich wollte mich nicht länger von ihnen aufhalten zu la s sen. Ungeachtet der Leere unter mir schob und zwängte ich mich an ihnen vorbei. Auf der anderen Seite, von i h rer Warte auf der Kuppe des Hügels vor der Baumlinie aus, zeigte die Baumfrau auf mich. Ich fürchtete, dass sie mich in meinen Körper zurückschleudern und erst in den Tod zurückkehren lassen würde, nachdem Spink und Epiny vollends dahingeschieden waren. Entschlossen packte ich die Halteseile der Brücke mit beiden Händen und hielt mich daran fest.
Da passierte etwas Seltsames mit mir. Ich konnte fü h len, wie die Magie durch die Brücke strömte, und ich erinnerte mich, dass sie ebenso sehr von mir wie von der Baumfrau gemacht worden war. Ich erkannte die gelben Strähnen wieder, die Teil ihres Geflechts waren; sie w a ren mein eigenes Haar. Und ich spürte, dass ich Kraft aus ihr ziehen konnte, wenn ich nur herausfand, wie. Jenes andere Ich hätte es gewusst. Aber ich nicht, und so kon n te ich mich nur festhalten und der Baumfrau auf diese Weise widerstehen. Ich spürte, dass sie mich nicht aus ihrem Reich vertreiben konnte, solange ich mich an der Brücke festhielt. Vorsichtig ging ich weiter über die Brücke, ganz langsam, sorgfältig darauf achtend, dass ich immer mit mindestens einer Hand das Seil festhielt. Kaum nahm ich die flüchtigen Wesen wahr, die mir Platz machten. Ich ging an ihnen vorbei und bewegte mich immer weiter meiner Nemesis entgegen. »Spink!«, rief ich erneut meinem Freund hinterher, der sich langsam den Hang hinaufmühte und nicht mehr weit von der Baumfrau entfernt war. »Kehr um! Bring Epiny mit, z u rück ins Leben! Zieh sie nicht mit dir in den Tod!«
Spink blieb stehen und wandte sich um. Licht flackerte einen Moment lang in seinen leeren Augenhöhlen, und zum ersten Mal sah ich etwas, das silbern auf seiner Brust glänzte. Epinys alberne Pfeife hing dort, das Li e bespfand, das er sogar in das Leben nach dem Tode mi t nehmen würde. Er machte einen Schritt in Richtung der Brücke, und mein Herz tat einen Sprung.
Plötzlich tauchte mein anderes Ich wieder auf der H ü gelkuppe der Baumfrau auf. Es bewegte sich ganz und gar nicht langsam. Es – er – schritt zielstrebig den Hang
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