Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ihn – fü h len. Das andere Ich war erstarkt. Plötzlich sah ich mit seinen Augen. Epiny war eine Hexe, eine Herrin der E i senmagie. Er schaute sie an und grinste hämisch, denn so mächtig sie auch war, sie war dem Untergang geweiht. So klar wie ich Epiny sehen konnte, sah ich auch das Band aus grüner Ranke, das ihr Handgelenk mit dem von Spink verband. Ich erkannte den »Bleib fest«-Zauber der Baumfrau.
Als mein wahres Ich bot ich meinen ganzen Willen auf. Ich streckte die Hand nach Epinys freiem Handg e lenk aus und packte es. Ich zog an ihr, während sie gleichzeitig mit einem leisen Schrei des Entsetzens vor mir zurückwich. »Ich muss dich befreien!«, flüsterte ich heiser. »Bevor es zu spät ist.« Mit meiner anderen Hand versuchte ich das »Los«-Zeichen über der grünen Ranke zu machen, die sie an Spink band. Einst hatte ich d a durch, dass ich dieses Zeichen gemacht hatte, mein Volk verraten. Jetzt würde es Epiny befreien. Aber mein and e res Ich war zu stark für mich. Wohl konnte ich die Hand heben, aber meine Finger ließen sich nicht so bewegen, wie ich es wollte. Er lachte mit meinem Mund.
»Nevare! Lass mich los! Du tust mir weh!«
Bei Epinys Ausruf tat Spink einen rasselnden Ate m zug. Dann ließ er die Luft mit einem Seufzen entwe i chen. Erschreckt wandte Epiny sich zu ihm. »Spink? Spink!«
Ich wartete. Die Minuten verstrichen. Spink holte nicht wieder Luft. Dann, plötzlich, gab er einen letzten Seufzer von sich. Ich hörte das Todesröcheln in seiner Brust. Epiny sank auf dem Boden zwischen unseren Be t ten auf die Knie. Noch immer hielt ich ihr Handgelenk umklammert. Sie schien es nicht zu merken. »Nein«, sa g te sie leise. »Oh, bitte, Spink, nicht! Verlass mich nicht! Verlass mich nicht!«
Er ist jetzt auf der Brücke, dachte ich. Mein Mund g e hörte nicht mehr mir. Mein anderes Ich hatte jetzt Macht über ihn. Ich wollte Epiny um Hilfe bitten. Nun, da die Übernahme meines Körpers durch mein anderes Ich Wirklichkeit geworden war, hätte ich Hilfe von jedem angenommen, der sie mir anbieten konnte.
Aber Epiny schaute mich nicht einmal an. Sie hatte begonnen, vor und zurück zu wippen, die freie Hand über den Mund gelegt. Doch ihr Wimmern war nicht zu übe r hören. Tränen flossen ihr über das Gesicht und die Fi n ger.
Ich bekam mit, wie Spinks Geist seinen Körper ve r ließ, auch wenn ich ihn nicht gehen sah. Aber ich sah, wie Epiny sich plötzlich kerzengerade aufsetzte und auf ihre freie Hand schaute. Ich sah, wie sich die Ranke um ihr Handgelenk festzog. Dann, als die Ranke verschwand wie durch eine unsichtbare Wand gezogen, wurde Epiny totenbleich. Ihr Mund öffnete sich und verharrte so. An Spink gebunden durch den »Bleib fest«-Zauber der Baumfrau, wurde ihr Geist zusammen mit seinem in den Tod gezogen.
Sie sackte langsam in sich zusammen und erstarrte.
Da begann ich mich gegen mein anderes Ich zu we h ren. Ich wehrte mich, wie ich es noch nie zuvor getan hatte, mit Wut und Hass und Abscheu. Immer wieder versuchte ich, das »Los«-Zeichen über ihren Körpern zu machen. Mein anderes Ich hielt mich davon ab. Auf die Krankenwärter, die zu uns gerannt kamen, muss ich wie ein Rasender g ewirkt haben, denn ich hielt Epinys Han d gelenk so fest umklammert, als könne ich sie dadurch vor dem Tod bewahren. Dabei ächzte ich die ganze Zeit und fuchtelte mit der freien Hand in der Luft herum, um me i ne Finger dazu zu zwingen, meinem Willen zu geho r chen.
Da fiel mir plötzlich der Kundschafterbluff ein, den ich vor vielen Jahren gelernt hatte. Ich ließ meinen Griff um Epinys Handgelenk erschlaffen, als wolle ich aufg e ben. Und als mein anderes Ich für einen Moment in se i ner Wachsamkeit nachließ, beschrieb ich ein Zeichen über meinem eigenen Griff um Epinys Handgelenk. Aber nicht das »Los«-Zeichen.
»Bleib fest!«, sagte ich mit meinen aufgesprungenen Lippen. Und dann sank auch mein eigener Körper zu B o den, als Epinys scheidender Geist mich hinter ihr her zog.
In dem Moment, als ich die Augen in dieser Welt schloss, schlug ich sie in jener anderen Welt auf, und ich sah die Brücke und den zähen Strom der Sterbenden, der sich über sie hinwegbewegte. Ich entdeckte Spink; er war schon fast drüben. Epiny schwebte über ihm wie ein V o gel an einer Leine. Sie war zu Tode verängstigt und zer r te mit aller Kraft an dem Band, das sie mit Spink verei n te. Spink nahm sie nicht einmal wahr. Er bewegte sich vorwärts, Schritt für Schritt.
Das Band, das mich
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