Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
wunderbares Leben haben. Ich kann es gar nicht erwarten. Ich hoffe, wir werden an der Grenze stationiert.«
»Wenn er überlebt«, sagte ich mit heiserer Stimme. Ich hatte an ihr vorbei auf die schlaffe Gestalt im Bett neben mir geschaut. Das jungenhaft Runde war aus Spinks Gesicht verschwunden. Sein Mund stand offen, und sein Atem ging unregelmäßig. Gelbe Kruste verkle b te seine Nasenlöcher und Augenlider. So etwas Unsch ö nes und Reizloses hatte ich noch nie gesehen.
Aber Epiny schaute ihn mit liebevollem Blick an. Sie nahm seine schlaffen Hände in ihre. »Er muss«, sagte sie mit entschlossener Stimme. »Ich habe gespielt und alles auf eine Karte gesetzt, um ihn zu bekommen. Wenn er stirbt und mich allein lässt …« Sie sah mich an und ve r suchte, ihre Angst nicht zu zeigen. »Dann werde ich alles verloren haben.«
Ich drehte den Kopf auf meinem heißen Kissen. »O n kel Sefert?«
»Er ist nicht hier.«
»Aber … wie bist du dann hierher gekommen?« Es kostete mich so große Anstrengung, das zu sagen, dass ich husten musste. Mit einem geübten Griff, der mir zei g te, dass sie das nicht zum ersten Mal machte, legte sie den Arm um meine Schultern und hob mich etwas an, während sie mir gleichzeitig Wasser anbot. Sie antwort e te erst, nachdem ich getrunken und sie mich wieder sanft auf das Kissen gedrückt hatte.
»Ich bin hierhergekommen, als die ersten Meldungen meinen Vater erreichten, wie schlecht die Dinge an der Akademie standen. Dann kam dein Brief … der, in dem du über den Dunkelabend und Caulder berichtetest, und darüber, dass du ausgesondert werden würdest und nur noch als Kundschafter eine Zukunft hättest. Vater war erzürnt. Er machte sich unverzüglich auf zur Akademie, aber an den Toren wehte eine gelbe Fahne, und die Wächter wiesen ihn ab. Als er nach Hause zurückkam, war meine Mutter bereits durch Boten von ihren Freu n dinnen gewarnt worden, dass in der Stadt eine Seuche wüte, die sich rasch verbreite. Meine Mutter erklärte da r aufhin, dass sich niemand von uns aus dem Haus entfe r nen dürfe, bis die Gefahr vorüber sei. Sie hat als Kind die Blattern überlebt und erinnert sich noch gut an jene Zeit.
Ich ertrug es drei Tage, mit ihr im Haus eingeschlo s sen zu sein. Wenn s ie nicht gerade lautstark prophezeite, dass wir alle an der Seuche sterben würden, schalt sie mich für mein schamloses Benehmen oder beklagte unter Tränen, dass ich alle meine Chancen verwirkt und den Namen der Familie in den Schmutz gezogen hätte. Sie schwor, dass sie es niemals zulassen würde, dass ich Spink heirate. Sie sagte, ich müsste für den Rest meines Lebens zu Hause bei ihr wohnen, als ehrlose alte Jungfer. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich eine so l che Zukunft für mich wäre, Nevare. Ich versuchte, ihr vor Augen zu führen, dass sie mich genauso behandelte, wie ihre Mutter sie behandelt hatte, indem sie über mich verfügte wie über einen Gegenstand, denn es ist mir i n zwischen klar geworden, dass für die Unterdrückung der Frauen in unserer Kultur in erster Linie Frauen veran t wortlich sind. Und als ich versuchte, vernünftig und in aller Ruhe mit ihr zu reden und ihr klar zu machen, dass sie nur wütend sei, weil ich die Kontrolle über mein L e ben an mich gerissen hätte und meine ›Ehrbarkeit‹ gegen eine Zukunft eingetauscht hätte, die ich selbst wollte, statt mich von ihr für einen Brautpreis und eine politische Verbindung verhökern zu lassen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Oh, war sie wütend, als ich das sagte! Und das nur, weil sie erkannte, dass ich Recht hatte.«
Sie legte die Hand auf ihre Wange, in Erinnerung an die Ohrfeige. »Sie ist selbst schuld, dass sie mich so e r zogen hat«, sagte sie kummervoll. »Wenn sie mich zu Hause eingesperrt und in Unwissenheit gehalten hätte, so, wie deine Familie es bei deinen Schwestern macht, wäre ich wahrscheinlich ziemlich fügsam geworden.«
Epinys Worte brandeten über mich hinweg wie Wellen über einen Strand. Manchmal erschloss ihr Sinn sich mir, dann wieder erschien er mir unklar. Ich brauchte einige Zeit, um zu merken, dass sie aufgehört hatte zu sprechen, ohne meine Frage beantwortet zu haben. Ich raffte all meine Kraft zusammen. »Warum?«
»Warum ich hierhergekommen bin? Weil ich musste! Es kamen schreckliche Meldungen, dass das Krankenr e vier hier von der Menge der erkrankten Kadetten schier überwältigt werde. Nachdem sich die erste Angst vor der Seuche gelegt hatte, wagten sich die
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