Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
herunter, und die Distanz zwischen ihm und Spink wurde rasch kürzer. Seine Wangenknochen mahlten, seine A u gen loderten wütend. Die Baumfrau schrie ihn an: »Z u rück mit dir! Ich kann allein mit ihm fertigwerden! Z u rück! Du musst den Körper behalten! Du musst ihn b e wohnen, um ihn am Leben zu erhalten.«
Er war genauso starrköpfig wie ich. Ich hatte ihn e r zürnt. In meiner eigenen Brust konnte ich den Widerhall seiner Wut fühlen. Er schenkte der Baumfrau keine B e achtung, sondern hastete unbeirrt weiter den Hang hinu n ter, um seine persönliche Rache an mir zu nehmen. Als Erstes würde er meine Freunde vertilgen.
Während ich mich durch die langsam dahinschlurfe n den Geister auf der Brücke kämpfte, schrie ich Spink verzweifelt an. Es war sinnlos. Schien er mich eben noch erkannt zu haben, so erlosch der Funke des Wiedere r kennens in seinen Augen wieder, nachdem er mich einen Moment angestarrt hatte. Er wandte sich wieder um, als folge er einem Ruf, und stapfte weiter den Hang hinauf, meinem Verräter-Ich entgegen. Er ging, als sei er tief in Gedanken versunken, anscheinend ohne zu merken, w o hin. Dabei zerrte er Epiny weiter hinter sich her. Ihr G e sicht war angstverzerrt. »Epiny!«, schrie ich. »Epiny! Halt Spink zurück! Zieh ihn zurück; geh zurück über die Brücke!«
Meine Worte schienen sie zu erreichen. Ihr angstvoller Blick huschte zu mir und dann zurück zu Spink. Hier war sie so zart und körperlos wie ein Schmetterling, ein Geist, der gefangen war zwischen zwei Welten und der doch zu keiner gehörte. Dennoch nahm sie den Kampf auf. Sie rief seinen Namen und zog an der Ranke, die sie mit ihm verband, in dem verzweifelten Versuch, ihn auf sich aufmerksam zu machen und zurückzuholen.
Mein anderes Ich schaute zu mir, und unsere Blicke trafen sich. Es – er – hasste mich. Er hob die Hand und beschrieb ein Zeichen, ein Zeichen, das ich gut kannte. »Bleibt fest!«, signalisierte er den anderen Geistern auf der Brücke, und sie blieben stehen und versperrten mir den Weg.
Ich war gefangen zwischen Leben und Tod, auf der Brücke zwischen den Welten. Die Phantome standen wie angewurzelt da und wichen keinen Fußbreit, so sehr ich mich auch anstrengte. Ich war fest zwischen ihnen eing e keilt. Mit aller Macht stemmte ich mich gegen sie, wobei ich stets darauf achtete, dass ich mit einer Hand die te u flische Brücke berührte. Eine Laune des Schicksals wol l te es, dass es Caulder war, der mir unmittelbar den Weg versperrte. Seine Züge waren im Tode genauso mürrisch, wie sie es im Leben gewesen waren. Ich packte ihn mit meiner freien Hand und schüttelte ihn. »Geh mir aus dem Weg!«, schrie ich ihn an. »Zurück mit dir!«
Zu meinem Entsetzen trat ein Funkeln von Bewuss t sein in seine Augen. Er öffnete den Mund, um etwas zu mir zu sagen, aber es kamen keine Worte heraus. Grauen erfüllte sein kindliches Gesicht, und stofflose Tränen tr a ten ihm in die Augen und rannen ihm über das durc h scheinende Gesicht. Der Anblick erfüllte mich mit Schrecken und verjagte auf einen Schlag all den Hass, den ich ihm gegenüber empfunden hatte. Ich hob die Hand. »Los!«, sagte ich und machte das Zeichen. »Kehr zurück! Kehr zurück in dein Leben!«
Sein Blick traf meinen, und er blinzelte, als erwache er aus einem Traum. Dann, mit einem lautlosen Schluchzen, drehte er sich um und versuchte, sich an mir vorbeiz u drängen, um über die Brücke zurückzukehren. Der Geist hinter mir versperrte ihm den Weg. Ich wandte mich zu ihm um. Es war ein knorriger alter Mann in zerlumpten Kleidern, wahrscheinlich ein Kavallaveteran, der seine letzten Tage in den Straßen von Alt-Thares fristete. »Los«, sagte ich leise zu ihm und beschrieb das Zeichen. Der alte Mann drehte sich um. Ich hob meine Hand ein Stück höher und schwenkte sie, machte das Zeichen über all den Geistern, die auf der Brücke aufgehalten wurden. »Los!«, schrie ich sie an. »Kehrt zurück!« Nun begannen sie sich alle zu regen. Nach und nach drehten sie sich um und machten sich auf den Rückweg über die Brücke. Ich kämpfte mich vorwärts, vorbei an denen, die jetzt kehr t gemacht hatten und in die entgegengesetzte Richtung strebten. Wie ein Fisch, der sich stromaufwärts müht, glitt ich zwischen ihnen hindurch, bis ich die andere Seite erreicht hatte.
Endlich gelangte ich ans Ende der Brücke, zu dem in den Erdboden gestoßenen Säbel, der sie verankert hielt. Ich schaute hinauf zur Baumfrau. Sie erwiderte meinen Blick
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