Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
Platz?«
Ich merke, dass ich das tatsächlich weiß. »Auf jeden Fall«, sage ich. Audreys Augen werden schmal und erst da merke ich, dass ich grinse wie eine Idiotin. Ich weiß etwas über mich. Es ist nur eine Kleinigkeit – nämlich dass ich Kaffee nur mit so viel Milch mag, dass er hellbraun ist –, aber es ist das erste Mal, dass ich etwas über mich weiß, ohne raten zu müssen.
Wir motzen unseren Kaffee auf – Ty schüttet noch drei Päckchen Zucker in seinen, sodass er ohne Weiteres als Dessert durchgehen könnte –, dann setze ich mich an einen Tisch in der hinteren Ecke, damit ich sowohl die Fenster als auch die Tür im Auge behalten kann. Ty nimmt links neben mir Platz.
»Ich wünschte, ich wüsste, was ich als Nächstes tun soll.« Ich lege meine Wange an die warme Tasse.
»Na ja«, sagt Ty, »was möchtest du denn?«
»Ich möchte wissen, wer ich bin.« Ich denke an all die Dinge, die ich gestern und heute gehört habe. Dass ich etwas bin, das man loswerden muss. Dass ich geistesgestört bin. Dass ich eine Mörderin bin. »Ich möchte wissen, was mir zugestoßen ist und warum ich mich an nichts erinnere. Ich will herausfinden, was ich nach Ansicht dieser Männer weiß. Und warum sie mich umbringen wollen. Ich will meine Familie finden. Ich möchte wissen, was wirklich mit Officer Dillow passiert ist. Und dann möchte ich herausfinden, wie ich wieder zu meinem normalen Leben zurückkehren kann.« Ich denke an Officer Dillow und ergänze: »So weit das eben möglich ist.«
»Im Grunde brauchst du Informationen«, sagt Ty und mir geht ein Licht auf.
»Hier muss es irgendwo eine Bibliothek geben, oder? Mit Computern, die man benutzen kann?«
»Ja, es gibt eine«, sagt Ty, während er sein Handy herauszieht und auf die Uhrzeit schaut, »aber sie macht erst in über einer Stunde auf.« Er bemerkt, wie ich sein Handy anstarre. »Was ist?«
»Die Männer können nur über Brenners Handy herausgefunden haben, wo ich hingefahren bin. Was ist, wenn sie durch dein Handy dahinterkommen, wo wir sind? Vielleicht solltest du es ausschalten. Und den Akku herausnehmen.«
Um seinen Mund zuckt es. »Was ist, wenn James versucht, mich zu erreichen?«
»Du kannst später von einem Münztelefon aus deine Mailbox abhören.«
Mit einem Seufzer schaltet Ty sein Handy aus und schiebt das Batteriefach auf.
Noch ein Gast betritt das Café, eine junge Frau mit einem Baby in einem Kinderwagen. Audrey kommt hinter der Theke hervor, um den schlafenden Säugling zu bewundern.
»Woher kennst du Audrey eigentlich?«
»Ich war letzten Sommer eine Weile obdachlos.«
Ich blinzle überrascht.
»Audrey auch. Sie ist es immer noch.« Er schaut zu ihr hinüber, dann sieht er weg und fährt sich mit dem Daumen über die Lippen. »Für ein Mädchen ist es da draußen härter. Ich habe versucht, ein bisschen auf sie aufzupassen. Als ich bei James eingezogen bin, habe ich ihr mein Zelt gegeben.«
Audrey bereitet für die Frau einen Kaffee zu und lacht dabei.
»Sie ist obdachlos?«
Ty lässt die Unterseite seines Daumennagels gegen seine beiden Schneidezähne schnalzen. »Wie soll sie vom Mindestlohn leben, wenn sie nur zwanzig Stunden pro Woche arbeiten kann?«
»Sie schläft also in einem Zelt?«
»Es gibt eine gute Stelle neben dem Radweg. Die habe ich ihr gezeigt. Die wenigsten kennen sie. Manchmal übernachtet Audrey hier auf dem Boden, auch wenn ihr Chef gedroht hat, sie rauszuschmeißen, wenn er sie noch mal dabei erwischt. Wir würden sie ja bei uns schlafen lassen, aber sie sagt, dass sie niemandem zur Last fallen möchte. Sie hat jede Menge Stolz.«
»Aber … obdachlos?« Das hört sich so krass an.
»Das sind nicht nur diese Stadtstreicher mit den vielen Plastiktüten. Es sind auch viele Kids darunter, die zu Hause rausgeschmissen wurden oder weggehen mussten. Manche halten es auch für ein spannendes Abenteuer. Das Abenteuer dauert dann genau einen Tag. In meiner Schule gibt es einige, die in Autos wohnen. Manche Leute putzen sich in öffentlichen Toiletten die Zähne und kämmen sich dort die Haare, bevor sie zur Arbeit an der Tankstelle gehen.«
»Und … wie war das bei dir? Was ist mit deiner Familie passiert?«
»Das ist nicht so wichtig.« Er schaut weg. Seine Lippen sind zu einer festen Linie zusammengepresst, dann sieht er mich wieder an und sie entspannen sich. »Lass uns lieber über deine Familie reden. Hast du nicht gesagt, du hättest ein Foto von ihr?«
Ich ziehe den Rucksack auf meinen Schoß
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