Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
und hole das gerahmte Bild heraus. »Das habe ich aus der Hütte mitgenommen. Ich glaube, dass das meine Familie ist, denn das da bin offensichtlich ich.« Ich tippe auf mein Gesicht. »Aber das ist alles, was ich weiß. Und nur vom Anschauen her lässt sich nichts sagen. Das ist nur ein Schnappschuss mit vier Leuten.«
»Warte mal.« Ty zeigt auf etwas im Hintergrund. »Was ist das?«
22
TAG 2, 9:32 UHR
T y zeigt nicht auf eine der Personen auf dem Foto, sondern auf etwas hinter uns.
Ich hatte mir den Hintergrund bisher noch gar nicht genauer angeschaut. Doch die vier Leute – die beiden Erwachsenen, die meine Eltern sein mussten, das kleine Kind, das vermutlich mein Bruder ist, und das Mädchen, mit dem ich mich allmählich identifiziere – stehen vor einem Backsteingebäude. Auf dem Schild steht MULTNOMAH ACA-DEMY OF … – dann ist die Schrift durch die Schulter des Mannes abgeschnitten. Der Schulter meines Vaters.
»Dort muss ich wohl zur Schule gehen«, sage ich. Und es fühlt sich an, als würde ein weiteres Puzzleteilchen an seinen Platz rutschen, oder wenigstens fast; das wird ja immer besser.
»Multnomah, das bedeutet wohl Multnomah County,« sagt Ty. »Das ist in Portland.«
»Aber was mache ich dann hier in Bend?«
Ty zuckt mit den Schultern. »Hattest du nicht gemeint, dass der Ort, an dem du zu dir gekommen bist, wie eine Ferienhütte ausgesehen hat? Vielleicht war deine Familie übers Wochenende dort und irgendetwas ist schiefgelaufen.«
Wo ist dann meine Familie? Warum war abgesehen von mir und den beiden Männern niemand in der verwüsteten Hütte? Ich nicke einfach und lasse den Finger über die Umrisse der Mutter, des Vaters und des kleinen Jungen gleiten. Werde ich meine Familie jemals im echten Leben berühren? Wenn ich tiefer in den Wald hineingegangen wäre anstatt heraus, wenn ich zu der Stelle gegangen wäre, zu der mich Michael Brenner schleppen wollte, hätte ich sie dann gefunden – ausgestreckt auf Kiefernnadeln, mit Einschusslöchern zwischen den Augen? Wenn ich mich nie mehr an sie erinnern kann und sie bereits tot sind – wie ich allmählich befürchte –, ist es dann so, als hätten sie nie gelebt?
Ty berührt meine Hand. »Ich sollte zurück nach Hause gehen und mein Auto holen. Dann könnten wir nach Portland fahren und sehen, ob dort jemand weiß, was passiert ist. Vielleicht ist sogar deine Familie dort.«
»Du kannst nicht zurück, Ty. Das ist zu gefährlich. Wenn sie Brenners Handy bis zum Einkaufszentrum verfolgt haben und dann zu deinem Wohnblock, dann wird es nicht lang dauern, bis sie dahinterkommen, dass du derjenige bist, der zu beidem eine Verbindung hat.«
Ty macht den Mund auf, um zu widersprechen, dann klappt er ihn wieder zu, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. Trotz der Männer, die mich jagen, glaube ich, dass das Ganze immer noch ein Spiel für ihn ist. Ein Spiel, bei dem wir uns in einen Schrank quetschen wie Kinder, die Verstecken spielen. Er hat Brenners stockenden Atem, als er so reglos am Boden lag, nie gehört. Er hat Officer Dillows Gesicht nicht gesehen, als ich die Waffe auf ihn gerichtet habe.
Dillows Pistole drückt mir in den Bauch. In diesem Augenblick bin ich vielleicht das einzige Mädchen in den USA, das eine Kanone im Hosenbund stecken hat und mit den Händen eine Kaffeetasse umschließt.
Ty nimmt einen letzten Schluck und schaut dann auf die Uhr an der Wand. »Ich glaube, wenn wir jetzt losgehen, sind wir da, wenn die Bibliothek öffnet. Ich schaue mal nach, ob die Luft draußen rein ist.« Er steht auf und geht zur Tür.
Ich stelle meine Tasse ab. Und wenn nicht, was mache ich dann? Ich schaue mich um. Es gibt eine Tür, die zu den Toiletten führt, aber das war’s auch schon. Kein Hinterausgang. Auch Audrey muss durch die Vordertür hereinkommen. Mein Atem beschleunigt sich. Ich habe eine Waffe, aber könnte ich sie wirklich benutzen?
Bevor ich vollkommen hyperventiliere, streckt Ty den Kopf zur Tür herein und bedeutet mir, dass alles in Ordnung ist. Er ruft Audrey einen Abschiedsgruß zu. Ich nicke ihr zu, als ich ihm zur Tür hinaus folge.
Wir brauchen etwa zwanzig Minuten, um zu Fuß zur Bibliothek zu gelangen. Zum Glück schlägt Ty nicht vor, es noch mal mit dem Skateboard zu versuchen. Ich beobachte jedes Auto, das vorbeifährt. Wann immer wir an einem Schaufenster vorbeikommen, sehe ich mir die Reflexionen an, um zu kontrollieren, ob jemand hinter uns ist. Aber ich entdecke nur normale Menschen. Männer in
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