Never Knowing - Endlose Angst
gut – es war ziemlich heiß draußen. Als sie tot war, fühlte ich mich besser.«
Er hielt inne, wartete darauf, dass ich etwas sagte. Aber ich blieb stumm.
»Ich blieb noch eine Weile bei ihr. Doch als ich ging, kam der Lärm wieder, also besuchte ich sie wieder, und er verschwand. Aber dann haben sie sie gefunden …«
Ich stellte mir vor, wie John im Wald auf eine sich zersetzende Leiche starrte. Ich schloss die Augen.
»Also hast du angefangen, die Puppen zu machen?«
»Ja.« Er klang erleichtert, als sei er froh, dass ich ihn verstand. »Bei deiner Mutter bin ich nicht fertig geworden.« Er klang verärgert. »Ich musste es noch einmal bei einer anderen Frau machen, erst danach verschwand der Lärm. Da wusste ich es ganz sicher.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Aber ich bin froh, dass ich es nicht zu Ende gebracht habe, sonst hätte ich dich nicht.«
Dieses Mal war ich diejenige, die das Thema wechselte. »Dieser Lärm, John. Hörst du Stimmen?«
»Ich habe dir doch gesagt, ich bin nicht verrückt.« Er sagte es, als sei ich die Verrückte. »Mein Kopf tut einfach weh. Und das Klingeln in meinen Ohren hört nie auf.«
Da machte es Klick.
»Hast du manchmal
Migräne
?«
»Ständig.«
»Sie wird schlimmer, wenn es draußen heiß ist, nicht wahr?« Jetzt war ich diejenige, die ganz aufgeregt war.
»Genau, dann wird es richtig schlimm.«
Wie konnte mir das entgangen sein? Alle Zeichen waren vorhanden gewesen. Sein Stöhnen, die verwaschene Sprache, seine Empfindlichkeit gegenüber Lärm. Durch Hitze ausgelöste Migräneanfälle.
»Ich habe auch Migräne, John.«
»Wirklich?«
»Ja, es ist furchtbar. Und bei mir sind die Anfälle im Sommer auch schlimmer.«
»Wie der Vater, so die Tochter, was?«
Seine Worte brachten mich mit einem Ruck zurück in die Wirklichkeit. Das hier war kein Gespräch mit dem langvermissten Vater, um eine Beziehung aufzubauen.
»Es ging los, als ich ein Teenager war«, sagte ich. »Wann hat es bei dir angefangen?«
»Als ich ein Kind war.«
»Nimmst du irgendetwas dagegen?« Wenn er ein Rezept bekam, könnte die Polizei ihn eventuell auf diesem Weg aufspüren.
»Nein, meine Mutter hat mir immer was gegen meine Kopfschmerzen gegeben. Sie sagte, der Schmerz käme von Geistern, die mich verfolgen.«
»Glaubst du, dass die Geister verschwinden, wenn du jemanden tötest?«
»Ich weiß es. Aber ich muss auflegen. Meine Telefonkarte ist bald alle. Wir reden bald wieder.«
Seine
Telefonkarte
war leer? War das der Grund, weshalb er seine Anrufe normalerweise so kurz hielt? Beinahe hätte ich gelacht.
»Okay, pass auf dich auf.«
Erst als er aufgelegt hatte, wurde mir klar, was ich gerade gesagt hatte.
Pass auf dich auf?
Es war nur reine Gewohnheit, ich sagte es oft zu Freunden oder zur Familie, aber John war weder das eine noch das andere. Hatte ich mich so sehr daran gewöhnt, mit ihm zu reden, dass mein Unterbewusstsein den Unterschied nicht mehr erkannte?
Billy rief an, um mir zu sagen, dass John nicht von der Insel angerufen hatte, sondern von irgendwo nördlich von Prince George, und in den Bergen untergetaucht war. Er war ganz begeistert, wie viel ich ihm entlockt hatte. Ich war ebenfalls aufgeregt. So vieles ergab plötzlich einen Sinn. In der gesamten Literatur hieß es, dass Serienmörder oftmals Euphorie empfänden, wenn sie jemanden getötet hatten, und bei John manifestierte sich das wahrscheinlich in der Überzeugung, dass seine Kopfschmerzen
davon
verschwanden.
Billy sagte, dass John wahrscheinlich um die zwanzig gewesen war, als er zum ersten Mal tötete. Da es ziemlich sicher auch seine erste sexuelle Erfahrung gewesen war, musste es noch intensiver für ihn gewesen sein. Seine Mutter, die ihn verlassen hatte, hatte ihm als Kind vermutlich den Kopf mit Mythen vollgestopft, was ohne weiteres erklären könnte, warum seine Morde so ritualisiert abliefen. Serienmörder neigen dazu, aufwendige Phantasiewelten zu kreieren, um sich selbst vor der Isolation zu schützen. Ich konnte mir nur ausmalen, in was für Tagträume ein kleiner Junge sich flüchtete, den man in den Bergen ausgesetzt hatte und der jagen musste, um zu überleben.
Als Evan an jenem Abend anrief, versuchte ich ihm alles zu erzählen, aber er antwortete nur kurz angebunden und fragte mich andere Dinge, über die Arbeit zum Beispiel oder nach Ally oder ob ich schon die Einladungs-Mails für die Hochzeit rausgeschickt hätte, was merkwürdig war, da er normalerweise der Letzte war,
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