Never Knowing - Endlose Angst
schieße niemals daneben.« Seine Stimme wurde ärgerlich. »Jedes Jahr stoße ich wegen irgendwelchen Amateuren in den Wäldern auf verletzte Bären. Wenn ich keinen ordentlichen Schuss direkt hinterm Ohr ins Hirn landen kann, drücke ich gar nicht erst ab. Die meisten Jäger werden aufgeregt, dann reißen sie im letzten Moment hoch und …«
»Wow, das ist echt interessant. Zu schade, dass das mit dem Treffen nicht geklappt hat. Ich würde gerne ein paar Geschichten von dir persönlich hören.«
»Große Geister denken gleich! Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir uns noch einmal verabreden – du kannst Ally mitbringen.«
»Ich weiß nicht recht … Vielleicht sollte ich beim ersten Mal lieber allein kommen. Sie könnte etwas zu Evan sagen. Aber ich kann Fotos von ihr mitbringen.«
»Ja, ja, bring Fotos mit. Das wäre klasse.«
Die Vorstellung, dass er ein Foto von Ally berührte, ließ mich erschaudern.
Er sagte: »Und wann wollen wir uns treffen?«
»Was meinst du?« Mein Mund wurde trocken.
»Ich muss sehen, dass ich wegkomme. Draußen wird es warm.« Er klang wieder verärgert. »Die Leute fangen an zu campen, und sie werfen ihren Müll in den Wald und drehen ihre Radios so laut, dass man keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.«
»Bald, wir können uns bald treffen.«
»Okay. Morgen.«
Darum habe ich Sie um eine Notfallsitzung gebeten. Ich weiß, dass Sie normalerweise keine Abendtermine vergeben, und ich weiß das wirklich zu schätzen. Glauben Sie mir, ich wollte früher kommen, aber ich saß den ganzen Nachmittag auf dem Polizeirevier. Billy hat auf Ally aufgepasst – er ist mit ihr sogar Pizza essen gegangen und wollte nicht einmal Geld dafür annehmen. Später erwarte ich noch Evans Anruf, und ich habe keine Ahnung, was ich ihm sagen soll oder ob ich es ihm überhaupt erzählen soll. Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur daran denke. Aber ich bin sicher, dass Evan mir vergeben wird, sobald wir John geschnappt haben. Wer war das noch, der gesagt hat, es sei besser, um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis zu fragen?
Sie sind der einzige Mensch, dem ich das erzählen kann, aber als ich auf dem Revier Billy und Sandy zuhörte – dieses Mal werde ich mich mit John im Bowen Park treffen, und sie wollten den neuen Plan mit mir durchsprechen –, hatte ich ein echt gruseliges Erlebnis. Ich glaube, der Auslöser war etwas, das Billy über Johns Kopfschmerzen sagte. Dass John sie als Ausrede benutze. Ich ertappte mich dabei, dass ich ihn eine Sekunde lang verteidigen wollte – dass ich
mich
verteidigen wollte. Mein ganzes Leben lang haben mich die Leute angeschaut, als würde ich simulieren, wenn ich einen Migräneanfall hatte. Aber ich weiß, wie weh es tun und dass der Schmerz einen fast verrückt machen kann.
Als ich noch zur Schule ging, stritt eine Freundin von mir sich ständig mit ihrer Mom, und wenn ihre Mom sagte: »Du bist genau wie ich in deinem Alter«, ließ sich meine Freundin darüber aus, dass sie überhaupt nicht wie ihre Mom sei. Ich verstand das nicht. Erstens waren sie sich wirklich ziemlich ähnlich, und zweitens fand ich es viel schlimmer, sich
nicht
in den Eltern wiederzuerkennen – so wie ich. Eindeutig nicht in Mom, der liebsten, geduldigsten Frau der Welt, und in Dad, na ja, da bräuchten wir eine zusätzliche Stunde, um alle Punkte aufzulisten, in denen wir uns unterscheiden.
Das ist einer der Gründe, warum ich so enttäuscht war, als ich Julia kennenlernte. Ich sah mich immer noch nicht. Es macht mir Angst, wie sehr ich John ähnle – seine Impulsivität, seine kurze Aufmerksamkeitsspanne, seine Wutausbrüche. Und jetzt auch noch die Migräne. Ich habe entsetzliche Angst, dass ich noch mehr werde wie er. Jedes Mal, wenn er etwas sagt, das mich an mich erinnert, male ich mir aus, ihn zu töten, ein Messer zum Treffen mitzunehmen und damit immer wieder auf ihn einzustechen. Der beste Teil ist, wenn er dann blutend daliegt und ich sehe, dass er endlich tot ist. Das fühlt sich gut an.
18. Sitzung
Ich habe über alles nachgedacht, was Sie gesagt haben, und in Anbetracht dessen, was ich gerade durchmache, könnte es mir vermutlich auch wesentlich schlechter gehen. Dass das nicht so ist, ist zum Teil Ihr Verdienst. Egal, was ich Ihnen erzähle, egal, wie verrückt ich mir vorkomme, Sie bringen mich dazu
hinzusehen
. Und Sie helfen mir immer dabei, herauszufinden, was dahintersteckt. Dann kann ich damit umgehen oder mir zumindest einen Reim darauf machen.
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