Nevermore
Feuer brannten. Sie war noch nie so geküsst worden - so als ob sich der Panzer um ihre Seele herum plötzlich in Luft aufgelöst hätte.
Er kam langsam näher, hielt dann jedoch inne. Die Musik, das Geschrei, die Stimmen, die Geräusche der aufgebrachten Menge draußen - das alles war verstummt. Auf einmal herrschte eine pulsierende Stille. Varen entzog sich Isobel und ging zur Tür.
Es wurde kalt im Raum. Isobel atmete ein, legte die Arme eng um sich, sie zitterte vor Kälte. Das Gefühl ließ die Erinnerung an den Abend in der Eisdiele wieder aufleben, an die Zeit, die sie dort im Kühlraum verbracht hatten. Das alles schien schon so lange her zu sein.
Mehrere Sekunden verstrichen.
Das fahle gelbe Licht, das die Wände schwach erleuchtete, begann, sich hin und her zu wiegen. Durch die Bewegung wurden ihre Schatten abwechselnd auf Wände und Boden geworfen, was den Eindruck erweckte, als ob das Zimmer voller Leute sei. Varen sah nach oben und Isobel folgte seinem Blick. Beide beobachteten sie, wie die nackte Glühbirne an ihrem ausgefransten Kabel vor-und zurückschwang, als wäre sie von einem nicht vorhandenen Windstoß erfasst worden. Sie schaukelte hin und her wie das Pendel einer Uhr.
Das Licht flackerte, ging aus und wieder an. Die Dunkelheit neckte sie und drohte, jeden Moment zum Angriff überzugehen.
Heiseres Geflüster stieg auf der anderen Seite der Tür hoch. Es hörte sich an wie trockene Blätter, die über einem Feuer knistern. Zuerst begann es ganz leise. So leise, dass Isobel sich nicht sicher war, was für eine Art Geräusch es war oder ob sie überhaupt etwas gehört hatte. Doch dann wurden die Stimmen deutlicher und zischten durch den Spalt unter der Tür. Irgendetwas lachte. Ein flinker Schatten bewegte sich so rasch und behände wie ein Tier.
Isobel fasste Varen am Ärmel. »Was ist los?«
Vorsichtig machte er ein paar Schritte nach vorne und stellte sich schützend vor sie. »Sie haben uns gefunden.«
Irrwitzigkeiten
Der Türknauf bewegte sich.
Isobel beobachtete, wie der Stuhl, der die Tür versperrte, wackelte. Irgendetwas schlug mit solcher Wucht gegen die Tür, dass sie in ihrem Rahmen erzitterte.
Vor Schreck stieß Isobel einen Schrei aus.
Urplötzlich verstummte das Geflüster.
Ein weißer Lichtschein leuchtete unter der Tür hindurch. Es sah genauso aus wie das Licht, das Isobel in den Traumwäldern gesehen hatte. Langsam wanderte es den Türspalt entlang, so als suchte es nach einer Möglichkeit, in das Zimmer zu gelangen. Auf der anderen Seite war ein Geräusch zu hören - es klang wie hauchdünner Stoff, der über die hölzerne Tür glitt. Isobel unterdrückte einen weiteren Schrei.
Flackernd verlöschte das weiße Licht.
Stille.
Nur das Geräusch ihres Atems.
Und dann plötzlich ein neues Geräusch, leise und weit entfernt.
»Hörst du das?«, flüsterte Isobel, noch immer an Varen geklammert.
Musik.
Die Melodie wurde lauter. Instrument für Instrument und
Note für Note fügte sie sich zusammen, bis Isobel schließlich klar wurde, was sie da hörte. Ein Orchester?
»Hör nicht hin«, sagte Varen mit brüchiger Stimme. »Tu so, als ob es gar nicht: da wäre.«
Die Musik wurde beständiger, eindringlicher - sie war vollkommen real. Saiteninstrumente spielten seufzend einen wirbelnden Walzer und ein Beckenschlag markierte eine Änderung in der Melodie. Die Walzermusik schwoll an - und klang so ganz anders als die ohrenbetäubende, zermalmende Gothikmusik. War das vielleicht eine andere Band? Nein, das war völlig unmöglich. Da waren keine Gitarren. Kein gequälter Gesang.
Stimmen drangen von der anderen Seite der Tür zu ihnen; sie klangen ganz anders als das Geflüster, das sie eben noch gehört hatten. Diese Stimmen waren kräftiger, lebendiger, sie gehörten echten Menschen, die lachten und sich unterhielten und einander etwas zuriefen. Sie wurden zunehmend lauter, begleitet von dem zarten Klirren und Klimpern von Gläsern. Immer mehr Stimmen kamen hinzu, jede Sekunde eine weitere, bis sie sich zu einem vielstimmigen, lebendigen Gemurmel vermischten.
Trotz des heiteren Gelächters, trotz der fröhlichen, beschwingten Melodie klammerte sich Isobel noch fester an Varens Rücken. Das ergab doch alles keinen Sinn! Es fühlte sich … falsch an. »Wer ist das da draußen? Was ist hier los?«
»Isobel, hör mir zu.« Yaren drehte sich zu ihr um. Ihr starrer Blick löste sich von der Tür und sie sah ihm in die Augen, als er mit ihr sprach. »Such
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