Nevermore
war ihm vollkommen gleichgültig.
»Es ist mir egal!«, schrie sie den Mülleimer an und versetzte ihm einen Tritt. Der Aufprall hallte von den Fliesen wider und der Mülleimer spuckte noch mehr zusammengeknüllte Papiertücher aus.
Es war dämlich von ihr, hier herumzuschreien. Es war dämlich von ihr zu weinen und vor allem war es dämlich von ihr, dass sie auch nur eine Sekunde lang geglaubt hatte, dass sie Freunde waren.
Isobel nahm eine Handvoll Papiertücher aus dem Spender. Sie würde nicht mit verschmiertem Make-up und geschwollenen roten Augen hinausgehen.
Bebend atmete sie ein, drehte den Wasserhahn auf und sah ihr Spiegelbild an.
Ein trockenes Krächzen blieb ihr im Hals stecken.
Jemand stand hinter ihr, im Türrahmen einer der Kabinen. Ein ganz in Schwarz gehüllter Mann. Er starrte sie an. Sein abgetragener Filzhut warf einen Schatten auf sein Gesicht und ein weißer Schal verhüllte seinen Mund und seine Nase, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte.
Isobel öffnete den Mund, um zu … um zu … was? Um zu schreien? Um etwas zu sagen?
Plötzlich öffnete sich die Tür zum Flur. Ihre Spindnachbarin steckte ihren Kopf hinein.
Isobel fuhr herum.
»Das nenne ich mal verbrannte Erde«, sagte das Mädchen. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Isobel hielt sich am Waschbecken fest und starrte auf die Stelle, wo sie eben noch den vermummten Mann gesehen hatte. ¡hr Blick schoss kurz zu ihrer Spindnachbarin, dann drehte sie den Kopf wieder zum Spiegel. Sie sah ihr eigenes, kalkweißes Gesicht und die Kabine hinter ihr - leer.
Ihre Lippen formten Worte. »Hast du …?« Aber die Frage blieb ihr im Hals stecken.
»Ich … na ja, ich dachte, ich sollte vielleicht, keine Ahnung . mal nach dir schauen?«, meinte Gabbie-Schrägstrich-Grace.
»Du hast also nicht gerade gesehen, wie …?« Isobel drehte sich um und zeigte auf die Kabine.
Ihre Spindnachbarin zuckte mit den Schultern. »Na ja …« Sie warf einen kurzen Blick über ihre knochige Schulter zurück auf den Flur. »Ich sage dir das ja nur ungern, aber ich glaube, dass es so ziemlich alle gesehen haben.«
Die Macht der Worten
»Okay, meine Damen, fünfter Anlauf!«
Der schrille Ton der Trillerpfeife bohrte sich in Isobels Kopf, hallte darin wider wie eine Sirene und verschaffte ihren Kopfschmerzen jetzt ganz offiziell Migränestatus.
Ohne sich mit den anderen aus dem Team zu unterhalten oder zu dehnen, wie sonst, trottete Isobel nach der letzten Formation zur Zuschauertribüne, wo sie ihre Sporttasche gelassen hatte. Sie zog den Saum ihrer blauen Trainingsshorts zurecht und plumpste auf die unterste Bank. Sie griff nach ihrer Trinkflasche, öffnete sie und trank sie in einem Zug aus. Dann schraubte sie den Deckel wieder darauf und stopfte die leere Flasche zurück in ihre Tasche, zwischen ihre Straßenschuhe und ihre Jeans.
Während sie so dasaß, konnte sie nicht einen einzigen vernünftigen Gedanken fassen. Sie versuchte, ihr Gehirn dazu zu zwingen, endlich mit der unerbittlichen Suche nach einer rationalen Erklärung aufzuhören für das, was sie auf dem Mädchen-gesehen hatte - die dunkle Gestalt, die sie angestarrt hatte und dann verschwunden war.
Isobel beschloss, dass das Ganze auf ihren Schlafmangel zurückzuführen war, und versuchte, an etwas anderes zu denken. Das aber gab ihrem Gehirn genügend Spielraum, um die qualvolle Szene vom Mittagessen wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge ablaufen zu lassen.
Wie in einer Endlosschleife sah sie Varen, wie er vom voll besetzten Mittagessenstisch hochblickte, wie seine steingrünen Augen sie zunächst leicht überrascht fixierten und dann langsam zu zwei tiefen Seen aus Nichts wurden - als würde er sie nur vage wiedererkennen.
Und dann dieses Mädchen. Lacy. Wie sie sie angeglotzt hatte - so als wollte sie ihr Revier verteidigen.
Isobel stellte sich die beiden zusammen vor, Händchen haltend. Wie Varen wohl als fester Freund war?
Er konnte verdammt zynisch sein. So trocken und bissig. Er gab so wenig von sich preis wie ein weißes Blatt Papier. Ob er zärtlich war?
Bei dem Gedanken zuckte sie zusammen und wurde wütend auf sich selbst - sie war völlig über die Realität hinausgeschossen! Varen war kein bisschen anders als die Leute, auf die er herabschaute. Das hatte er beim Mittagessen bewiesen.
Isobel seufzte, schloss ihre Augen und versuchte, etwas von ihrer Anspannung loszuwerden, indem sie lange und tief ausatmete.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen,
Weitere Kostenlose Bücher