Nevermore
fürs nächste Mal, dass du nicht draufschauen solltest.«
Isobel hatte nicht die Kraft, zurückzusticheln. Es war schon jetzt ein anstrengender Tag. Am Nachmittag hatte sie Training und das mit der Hälfte ihrer ehemaligen Clique. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, würde der Tag bestimmt nicht vorübergehen, ohne dass sie Brad begegnete.
Oh nein, dachte sie. Brad. Wie sollte sie jetzt bloß vom Training nach Hause kommen?
Isobel starrte auf den Tisch und stützte ihre Stirn auf eine Hand. Sie hatte große Lust, einfach aufzugeben. Ginge das? Warum gab es nicht einfach einen Eject-Button, den sie drücken konnte? Das alles wäre gar nicht so schlimm, wenn ihre Eltern sich endlich einen Ruck geben würden und sie den Führerschein machen ließen, statt sie bis zum Frühjahr warten zu lassen. Aber leider war das Warten bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag und mehr Fahrstunden zu nehmen Teil der Abmachung - sonst konnte sie das mit dem eigenen Auto ganz vergessen.
»Dad?«
»Mmh?«
»Kannst du mich heute vom Training abholen? So gegen halb fünf?«
»Fährt Brad dich denn nicht nach Hause?«
»Er … Sein Auto ist in der Werkstatt.«
»Ach ja? Ich dachte, er kennt sich ganz gut aus mit Autos.«
Ach, komm schon, Dad.
»Es ist wohl etwas, was er nicht selber reparieren kann. Holst du mich ab?«
»Ich kann auf dem Heimweg von der Arbeit bei der Schule vorbeifahren. Braucht Brad auch jemanden, der ihn nach Hause fährt?«
»Nein.« Das war also geschafft!
Ihr Vater legte die Zeitung auf den Tisch und musterte sie. »Versteht ihr beiden euch noch?«
»Super, Dad.« Isobel seufzte und ließ die Schultern hängen. »Super.«
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Izzy? Du siehst nicht gut aus.«
»Zum hundertsten Mal, Dad: ja.« Abgesehen davon, dass sie all ihre Freunde an einem einzigen Wochenende verloren hatte, von Phantomen verfolgt wurde und sich wie eine Mensch gewordene Marionette fühlte, ging es ihr ganz großartig. Danke der Nachfrage, Dad.
»Hmpf«, machte ihr Vater und schlug seine Zeitung wieder auf. Er blätterte laut raschelnd durch ein paar Seiten, bevor er die Zeitung mit einem Ruck wieder glatt strich. »Du warst etwas komisch in letzter Zeit.«
»Die Hormone«, murmelte Isobel.
Danny verzog das Gesicht und knallte seinen Löffel auf den Tisch. »Wie eklig!«
Von ihrem Dad kam nur ein kurzes »Mmh«.
Ihre Mutter kam herein. »Seid ihr zwei so weit?«
Isobel war nur allzu froh, sich aus dem Staub machen zu können. Sie zog die braune Cordjacke an, die über ihrer Stuhllehne hing, und ging Richtung Haustür. Im Vorbeigehen schnappte sie sich ihren Rucksack.
»Wer von euch will zur Bushaltestelle mitgenommen werden?«, fragte ihre Mutter. »Ich glaube, wir haben sogar noch Zeit für einen Milchkaffee zum Mitnehmen.«
»Ich«, brummte Isobel, gierig nach Kaffee, während ihr Bruder den Kopf schüttelte und laut aufstöhnte.
Isobel strich sich eine Strähne ihres halb geföhnten, halb luftgetrockneten Haares hinters Ohr und beugte sich zu ihrem Spind hinunter, um ihren Ordner herauszunehmen. Neben sich hörte sie wütendes Papierrascheln, gefolgt vom dumpfen Aufschlagen von Büchern. Ihre Spindnachbarin durchwühlte auf Knien und mit klimpernden Armreifen einen riesigen Papierwust.
Mit ihrer schmalen Figur und ihrem langen Hals erinnerte sie Isobel an eine Gans. Immer trug sie lange, weite Crinkleröcke mit Blumenmuster, darunter schwarze Leggings und als Oberteile enge Pullis über ärmellosen Tops - nicht zu vergessen: die ovale Brille. Ihr Haar war glatt und mausbraun und so lang, dass sie sich draufsetzen konnte. Sie hielt es mit einem Bandana aus dem Gesicht oder band es im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Sie war eigentlich niemand, mit dem Isobel sprechen würde, doch aus irgendeinem Grund fand sie es plötzlich komisch, dass sie sich jeden Tag sahen und noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Sollten sie nicht automatisch so etwas wie Freunde sein, bei nebeneinanderliegenden Spinden?
»Hi«, sagte Isobel, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Hast du was verloren?«
»Sie kann sprechen«, meinte das Mädchen, »unglaublich. Was sagt man dazu.« Mit beiden Armen stopfte sie den Papierstapel in ihren Spind. Dann stand sie auf und trat auf den Blätterberg ein. »Und sie, die immer alles fallen lässt, fragt mich, ob ich etwas verloren habe. Nein, ich habe nichts verloren. Außer vielleicht meine Fähigkeit, überrascht zu
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