Nevermore
aufzupassen und zuzuhören. Ich habe nicht viel Zeit.«
Isobel starrte ihn an, während er weiter in ihr Zimmer hineinging. Die Ziffern auf ihrem Digitalwecker sprangen wild herum, so als könnten sie sich nicht entscheiden, welche Zeit sie anzeigen sollten.
»Dann bist du wohl im falschen Traum. Ich habe nämlich keine Freunde mehr.«
»Dann ist es umso bedauerlicher«, sagte er brüsk und sein kalter Blick richtete sich noch eindringlicher auf sie, »dass er dich in große Gefahr gebracht hat. Sie ist nämlich hinter dir her.« sein Mantel wirbelte auf, als er sich umdrehte.
Isobel blinzelte und senkte die Bürste. Sie ?
Sie beobachtete ihn, wie er zu ihrem Nachttischchen hinüberglitt und mit seinen langen Fingern in die Falten seines Mantels griff Als der Stoff zur Seite glitt, glaubte Isobel, den verzierten griff einer altmodischen Klinge zu erkennen. Doch dann gaben die Falten des dunklen, schweren Stoffes den Blick auf ein Buch frei, das er in den Händen hielt - ein Buch, das Isobel kannte, ein Buch mit Goldschnitt und einem dicken schwarzen Einband.
»Hey!« Sie löste sich von der Wand und ließ die Bürste fallen. Eine Art Schauer kochte in ihr hoch - eine Mischung aus Erleichterung und Verwirrung. Und Angst. »Ich dachte, ich …«
Sanft legte Reynolds das Buch auf ihren Nachttisch, strich mit seiner behandschuhten Hand über den goldgeprägten Titel: Die Gesammelten Werke von Edgar Allan Poe . »Ich denke, dass du dieses Buch aus einem guten Grund erhalten hast«, sagte er und richtete seine kohlrabenschwarzen Augen erneut auf Isobel. »Ich an deiner Stelle würde etwas vorsichtiger damit umgehen.«
Isobel starrte das Buch mit ungläubigen Augen an. Genau dieses Buch hatte sie heute in der Schule in den Müll geworfen. Sie konnte das beigefarbene, zungenartige Band sehen, das unten hervorlugte, und die leichte Falte entlang des Rückens. Und trotzdem war es jetzt hier, unversehrt.
»Hör gut zu. Die einzige Möglichkeit, wie du deine Träume kontrollieren kannst, ist, dir bewusst zu machen, dass du träumst. Wenn du das nicht schaffst, kann ich dir nicht helfen.«
Völlig verwirrt schüttelte Isobel den Kopf. Je mehr dieser Typ von sich gab, desto mehr hörte er sich an wie ein Glückskeks.
»Was habe ich denn überhaupt mit all dem zu tun? Wer ist hinter mir her?«
»Es ist besser, diesen Namen nicht auszusprechen. Worte, Isobel, haben seit jeher die gefährliche Fähigkeit, Dinge zum Leben zu erwecken. Vergiss das nicht.«
»Wenn wir gerade von Namen sprechen, woher kennst du meinen überhaupt? Und warum ist diese >sie< - wer auch immer das ist -, warum ist sie hinter mir her?«
»Weil«, beantwortete er nur ihre zweite Frage, »er von dir träumt.«
»Wer?«
»Komm mit.« Reynolds schwang seinen langen Mantel, wandte sich zu ihrem Schlafzimmerfenster und zog mit seiner spinnenartigen Hand den weißen Spitzenvorhang zurück. Eine kühle Brise zog herein und spielte mit den Vorhängen.
Isobel spürte, wie ihr Haar über ihre Wange strich. Wie konnte sich ein Traum nur so real anfühlen?
Sie trat ans Fenster. Jetzt stand sie so dicht neben Reynolds, dass sie seine Augen sehen konnte. Sie hatten keine Pupillen. Zwei schwarze, münzgroße Löcher, die nun zum Fenster hinausstarrten. Isobel folgte seinem Blick.
Plötzlich erhellte sich die nächtliche Finsternis. Ein verkratztes graues Bild entstand. Es war am Rand verschwommen und zerfasert wie ein alter Film. In der Ferne konnte sie den Umriss eines dunklen Waldes erkennen. Ein schwaches violettes Licht schien durch eine Gruppe dünner schwarzer Bäume. Und dann sah Isobel die kantigen Schultern einer vertrauten Gestalt. Eine große, schlanke Gestalt in einer dunkelgrünen Jacke.
»Varen …?«
Ultima Thule
Isobel blinzelte zur Decke. Ein Kribbeln schlich durch ihre Gliedmaßen wie das schwache Summen statischer Elektrizität. Irgendwie hatte sie ihre übliche Aufwachroutine - sich hin und her zu wälzen und auf ihre Kissen einzuschlagen - komplett ausgelassen und einfach die Augen geöffnet.
Sie hatte von etwas geträumt. Von etwas Wichtigem.
Von ihm . Sie hatte ihn gesehen.
Oh nein, ihn .
Sie stöhnte auf. Ein dumpfer Schmerz kroch ihre Wirbelsäule hinauf und machte sich in ihrer Brust breit. Nicht mal an seinen Namen wollte sie denken. Sie rollte sich auf die Seite, kniff die Augen zu und drückte das Gesicht in ihr Kopfkissen. Nein, sie wollte sich nicht an das erinnern, was passiert war, an den Albtraum-Tag
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