Nevermore
gestern.
Umso wacher sie wurde, desto mehr ließ das Kribbeln nach. Benommen blickte Isobel zum Fenster und sah, wie die halb nackten Äste der Bäume erzitterten und sich hin und her wiegten wie Klauenhände, die nach der Sonne griffen.
Die Sonne.
»Oh Mist!«, krächzte sie, setzte sich auf und griff nach ihrem Wecker. »Fünf nach halb zwölf, oh Gott!«
Sie hatte den ganzen Rest des gestrigen Tages und den gesamten Vormittag verschlafen. Sie hatte ihren Wecker nicht gestellt! Eigentlich sollte sie genau jetzt in Mr Swansons Unterricht sitzen! Warum hatte sie denn niemand geweckt? Warum hatte nicht…?
Isobel starrte den Wecker an, den sie mit beiden Händen umklammert hielt. Ihre Augen blickten ins Leere, als sie versuchte sich an den Traum von letzter Nacht zu erinnern. Warum hatte sie bloß das Gefühl, dass es äußerst wichtig war, dass sie sich daran erinnerte? Die blauen Zahlen auf ihrem Wecker verschwammen mit dem schwarzen Hintergrund. Isobel dachte daran, wie sie plötzlich verrücktgespielt hatten, als -
»Reynolds«, flüsterte sie und ließ den Wecker fallen, der auf ihren Bettrahmen krachte und dann dumpf auf dem Teppich aufschlug. Wie ein Stromstoß schoss ihr das Bild ihrer herumschwebenden Sachen durch den Kopf. Wie versteinert saß Isobel da, krallte sich in ihrer Bettdecke fest und suchte mit den Augen das Zimmer ab.
Ihre Haarbürste lag nicht auf dem Boden, sondern auf der Kommode, gleich neben ihrem Number-One-Flyer-Pokal.
»Mom?« Ihre Stimme kratzte im Hals. Sie schluckte gegen den Schmerz an, quälte sich aus dem Bett, trottete zur Tür und öffnete sie.
Sie starrte in einen leeren, stillen Flur.
Plötzlich hatte sie Angst, sich umzudrehen. Das Buch. Ob es noch da war? Langsam löste sie ihre Hand vom Türgriff und blickte zu ihrem Nachttischchen.
Neben der Lampe mit dem pinkfarbenen Schirm lag das staubige Fotoalbum von den Cheerleading-Events des letzten Jahres. Und ein paar Haargummis. Aber kein Buch. Kein Poe.
Isobel bemerkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie atmete tief aus und musste plötzlich lachen. Als sie die Treppe hinunter lief vorbei an den Familienfotos, kam sie sich plötzlich dämlich vor, dass sie etwas aus ihrem Unterbewusstsein so ernst genommen hatte.
Helles Tageslicht strömte durch die Fenster, doch das Haus wirkte wie ausgestorben.
»Mom?«: rief Isobel noch einmal und ihr Hals fühlte sich jetzt glücklicherweise etwas weniger wie ein Katzenkratzbaum an.
Im Vorbeigehen drückte sie auf mehrere Lichtschalter, obwohl es im Haus gar nicht dunkel war. Aber das künstliche Licht wirkte irgendwie beruhigend auf sie, diese Stille war einfach zu bedrückend. Mit den Fingerspitzen streifte Isobel an der Wand entlang, während sie in Richtung Küche ging. Dort würde sie etwas Kaltes zu trinken finden und vielleicht etwas zu essen. Sie öffnete den Kühlschrank, entschied sich für eine Sprite und trank sie halb aus, noch bevor sie die Tür wieder zumachte.
Vermutlich hatte ihre Mutter in der Schule angerufen und sie krankgemeldet, weil sie gestern Abend Fieber gehabt hatte. Aber wo war ihre Mom jetzt?
Keine Schule heute. Isobel konnte nicht behaupten, dass sie nicht dankbar dafür war. Noch einen Tag wie gestern würde sie auf gar keinen Fall überleben.
Sie schloss die Augen und versuchte nicht an Varens sanfte, blasse Gesichtszüge zu denken, doch das bewirkte natürlich nur das Gegenteil - sie sah sie nun umso lebhafter vor sich. Eine Hand am Griff der Kühlschranktür, legte Isobel ihre Stirn an die kühle Oberfläche. Das fühlte sich angenehm an. Sie drehte den Kopf, um auch die Wange dagegenzudrücken. Wach auf, Isobel. Was ist denn das Problem? Warum kommst du nicht einfach darüber hinweg? Es ist nur irgendein Typ. Irgendein Typ, von dem sie geträumt hatte. Warum musste er bloß so … so …
Isobel knurrte frustriert und drückte sich vom Kühlschrank ab. Sie nahm einen geräuschvollen Schluck von ihrer Sprite und ging in die Speisekammer. Sie würde es ausnahmsweise wie Danny machen und ein paar Chocolate-Chips-Cookies zum Frühstück essen. Sie streckte die Hand nach der Speisekammertür aus …
Ein goldenes Glitzern auf schwarzem Hintergrund stach ihr ins Auge.
Sie sah genauer hin und die Sprite glitt ihr aus der Hand. Mit einem dumpfen Schlag fiel sie zu Boden und die Limonade ergoss sich mit einem leisen Zischen über den Fliesenboden.
Dort auf dem Küchentisch lag das ihr so wohlbekannte große schwarze Buch mit seinen
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