Nevermore
Hände berührten.
Ein leises Klopfen an ihrer Zimmertür ließ Isobel aufschrecken. Sie drehte sich blitzartig um und stand jetzt mit dem Rücken zum Fenster. Von draußen drangen verschiedene Geräusche herein: Varen verlagerte sein Gewicht, dann ein leises Fluchen und schließlich ein langes, kratzendes Rutschen.
»Isobel?« Ihr Vater.
»Ich habe nichts an!«, rief sie. Ihre Stimme hörte sich lächerlich laut und aufgewühlt an. »Eine Sekunde!« Sie drehte sich um und schaute wieder zum Fenster, wo Varen mit dem Kopf voran das steile Dach hinunterrutschte und dabei eine Tasche hinter sich herzog, die er so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel vor Anstrengung ganz weiß waren.
»Oh nein!« Isobels Hände flogen zum Mund und sie versuchte, einen Schrei zu unterdrücken. Lediglich ein hohes, schrilles Quietschen kam heraus. Sie kämpfte gegen den Drang an, die Augen zuzumachen, und sah entsetzt zu, wie er weiter auf die Dachkante zuraste. Der Träger seiner Tasche verhakte sich an einem Dachziegel und wurde ihm aus der Hand gerissen. In letzter Sekunde schaffte Varen es, sich umzudrehen. Gerade noch rechtzeitig fanden die Absätze seiner Stiefel an der Dachrinne Halt. Er hielt an. Isobel konnte wieder atmen.
Das Klopfen an der Tür wurde beharrlicher. »Isobel, ist alles in Ordnung da drin?«
»Alles bestens!« Sie griff nach oben und bekam das Rollo zu fassen. »Gib … mir nur eine Sekunde, okay?«, rief sie ihrem Dad zu. Sie löste die Bänder, die ihre Vorhänge zusammenhielten, und zog die Gardinen zu. Dann drehte sie sich um und stürzte quer durch das Zimmer zu ihrem Schrank. Sie riss ihren pinken Bademantel vom Bügel, warf ihn sich über und band sich den Gürtel um die Hüfte. Damit ihr Vater ihr T-Shirt nicht sah, hielt sie den Kragen zusammen, huschte zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit.
»Ja?«, fragte sie und versuchte, normal zu atmen.
Ihr Vater kam näher und klemmte seine Schuhspitze in den Spalt zwischen Tür und Türrahmen. Isobel lehnte sich gegen die Tür. Er blickte argwöhnisch an ihr hinunter und dann über ihren Kopf hinweg an ihr vorbei.
»Dad«, sagte sie, »ich wollte gerade duschen gehen.«
»Oh«, sagte er. Die Lüge funktionierte. Ihr Vater wich zurück und zog seinen Fuß zurück. »Ich dachte, ich hätte dich schreien gehört.«
»Ich war am Telefon«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
»Ist alles in Ordnung?«
»Jap!« Sie setzte ein Lächeln auf.
»Okay.« Er steckte die Hände in die Taschen, machte aber keine Anstalten zu gehen.
»Okay«, echote sie und drückte die Tür zu.
Ihr Vater schob wieder seinen Fuß dazwischen. »Hör zu, du hast nicht zufällig etwas auf dem Dach bemerkt, oder? Deine Mom glaubt, dass sie wieder diesen Waschbären gehört hat.«
»Nein!«, antwortete Isobel schnell - vielleicht etwas zu schnell. Sie versuchte, möglichst unwissend zu wirken. »Nein«, wiederholte sie. »Nichts.«
»Okay«, sagte er, »macht es dir was aus, wenn ich nachsehe?«
»Dad!«, kreischte sie. Mit ihrem Fuß schob sie seinen aus der Tür und machte sie ihm dann vor der Nase zu. »Warte einfach, bis ich unter der Dusche bin! Ich bin nackt!«
»Okay! Okay! Ist ja gut, ich warte!«
Isobel verharrte noch einen Moment an der Tür, drückte das Ohr dagegen und lauschte. Als sie leise Schritte hörte, öffnete sj sie wieder einen Spalt und sah, wie ihr Vater die Treppe hinun terstapfte und dabei irgendetwas in sich hineinmurmelte.
Sie schloss die Tür wieder und schloss ab. Dann ging sie zu rück zum Fenster und schob es auf.
»Was machst du da?«, zischte sie hinaus in die Dunkelheit.
Sie entdeckte Varen in der Nähe der Dachkante. Im Krebsgang bewegte er sich vorsichtig zurück in Richtung Fenster, bis er genug Abstand zur Dachkante hatte.
Isobel schob sich nach draußen. Auf dem Fenstersims ging sie in die Hocke, lehnte sich hinaus in die frostige Luft und ein kühler Wind fuhr ihr durchs Haar, als sie zusah, wie Varen sich aufrichtete.
Geschmeidig wie ein Seiltänzer ging er auf dem abschüssigen Dach langsam seitwärts auf sie zu. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.
Während er näher kam und der Wind sein pechschwarzes Haar zerzauste, sagte Varen kein Wort. Er bückte sich, um die Nylontasche aufzuheben, die sich an dem Dachziegel festgehakt hatte. Als er nahe genug war, griff er nach dem Fenstersims und zog sich daran hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde standen sie sich direkt gegenüber. Ihre Blicke trafen
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