Nevermore
dich irgendwer dazu angestiftet, mich anzurufen und mir das alles zu erzählen?«
»Hör zu«, sagte Gwen, »ich habe dich nicht angerufen, um dir
einen Streich zu spielen oder so. Ich habe dich angerufen, weil da irgendetwas echt Krasses los ist, und nachdem es gleich neben deinem Spind passiert ist, dachte ich, du willst es vielleicht wissen.«
Ein schlurfendes Geräusch veranlasste Isobel, sich zum Fenster zu drehen.
»Wenn ich natürlich gewusst hätte«, plapperte Gwen weiter, »dass ich der Lüge und noch dazu der Verschwörung bezichtigt werden würde, hätte ich stattdessen einen Artikel darüber geschrieben und ihn an die Schülerzeitung geschickt.«
»Psst!«, zischte Isobel. »Gwen, psst!«
Da war das Geräusch wieder. Ein gedämpftes Knirschen.
»Ich glaube nicht, dass ich die Klappe halten muss. Weißt du, ich hätte dich nicht anrufen müssen. Ich habe Besseres zu tun. Meine Mathehausaufgaben zum Beispiel.«
»Nein, Gwen, das ist es nicht«, flüsterte Isobel. Das dumpfe, kratzende Geräusch wurde lauter. »Ich habe etwas gehört.«
Einen Augenblick lang war es still in der Leitung.
»Gwen?«, fragte Isobel und befürchtete, dass sie aufgelegt hatte.
»Ich bin noch dran, obwohl ich mich langsam frage, wieso eigentlich.«
»Ich glaube dir«, sagte Isobel, als sie ein weiteres, lang gezogenes Kratzgeräusch von der anderen Seite des heruntergezogenen Rollos vernahm. »In letzter Zeit ist wirklich ein Haufen seltsames Zeug passiert. Aber ich kann es dir jetzt nicht erzählen, weil ich glaube, dass da was vor meinem Fenster ist.«
Es entstand eine angespannte Stille. Isobel lauschte angestrengt.
»Soll ich die Polizei rufen oder so?«, flüsterte Gwen.
»Nein, noch nicht. Hör zu, bitte bleib in der Leitung. Ich versuche rauszufinden, was da ist. Es kann auch nur … du weißt schon … ein Vogel oder so was sein.«
»Ein Vogel? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein«, murmelte Isobel, abgelenkt von dem Kratzen, das diesmal näher klang. Irgendetwas schlurfte direkt vor ihrem Fenstersims herum. Was auch immer da draußen war, es hörte sich definitiv größer an als ein Vogel.
»Warte kurz«, sagte sie. Sie kroch nach vorne, hielt das Telefon eng ans Ohr gedrückt und streckte den anderen Arm aus, um an das Rollo zu kommen.
»Isobel? Was ist da los? Bist du noch dran oder was?«
Gebannt von den Umrissen der großen schwarzen Gestalt, die sich da draußen vor ihrem Fenster bewegte, beobachtete Isobel, wie sich ihre eigene Hand - bemerkenswert ruhig - langsam dem Rollo näherte. Mit einem Finger zog sie es ein ganz klein wenig zurück und spähte mit zusammengekniffenen Augen hinaus in die Dunkelheit.
Eine dürre, spinnenartige Hand, die in der Dämmerung fast weiß leuchtete, schlug gegen die Scheibe.
Isobel schrie auf und stolperte nach hinten, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Teppich. Die Jalousie schnellte hoch. Das Telefon sprang ihr aus der Hand und landete außerhalb ihrer Reichweite. Sie konnte Gwens hektische Stimme ihren Namen rufen hören.
Isobel starrte schreckerfüllt durch das dunkle Quadrat ihres Fensters in das blasse, hell erleuchtete Gesicht, das zurückstarrte.
Besuche
»Varen!« Isobel sprang auf und eilte zum Fenster, löste die Verschlüsse und begann die Scheibe hochzuhieven.
Unsicher kauerte er auf dem abschüssigen Dach und sah sie unverwandt an. Sein ruhiges, ausdrucksloses Gesicht befand sich auf gleicher Höhe mit ihrem. Jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen, bohrte sich dieser kühle, jadegrüne, kajalumrandete Blick in sie und sandte kleine Stromschläge durch ihren Körper.
»Isobel! Isobel!«, ertönte ein dünnes, angestrengtes Insektenstimmchen hinter ihr. »Isobel, ich rufe jetzt die Polizei!«
»Oh!« Isobel wirbelte herum und machte eine »Moment!«-Handbewegung in Richtung Fenster, bevor sie nach dem Telefon griff. »Gwen«, sagte sie, »es ist Varen. Ich muss auflegen.«
»Achduliebesbisschen. Okay - aber ruf mich bloß zurü-!«
Piep . Isobel warf das Telefon beiseite und rannte zurück zum Fenster. Sie zog und zerrte daran, bis es sich einen Zentimeter weit nach oben bewegte und die kalte Abendluft hereinließ. Sie schob die Hände darunter und wollte es weiter hochdrücken, als sie plötzlich erstarrte.
Seine von der Oktoberluft kalten Fingerspitzen glitten neben ihre.
Alles um sie herum schien stillzustehen. Und wieder war da so ein elektrisierendes Gefühl, ein sanftes Kribbeln an der Stelle wo sich ihre
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