Nevermore
noch Cheerleaderin sein, wie schön!
Isobel seufzte. Sie schob ihre Karteikarten zwischen die Buchseiten klappte es zu und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen Stapel Ausdrucke aus dem Internet und den danebenliegenden Stapel Plakatkartons. Es mussten noch die Bilder aufgeklebt werden, die Varen während der Präsentation hochhalten und dann entlang der Tafel platzieren würde. Nichts Großartiges. Ein total durchschnittliches Schulprojekt.
Sie zog einen der Ausdrucke zu sich: ein Bild von Poe. Nachdem sie es auf der Rückseite mit Klebestift bestrichen hatte, drückte sie das düstere Porträt auf den dafür vorgesehenen Pappkarton und legte ihn zur Seite, um das Ganze trocknen zu lassen. Sie konnte nicht anders, als das Foto anzustarren. Es waren diese Augen, diese tiefen schwarzen Schächte. Ihr sorgenvoller Ausdruck schien Isobel regelrecht zu durchbohren und sie hatte das Gefühl, dass Poe sie schweigend um irgendetwas anflehte. Ihr kamen die Worte einsam und verlassen in den Sinn.
Isobel wandte den Blick ab und kämpfte gegen ein Schaudern an. Sie beäugte Varen, der mit gesenktem Kopf vollkommen vertieft war in irgendetwas über Poe, auf das er gestoßen war. Sie nutzte schamlos die Gelegenheit aus, um ihn gründlich in Augenschein zu nehmen, wie er mit dem Rücken am Bett lehnte, mit ausgestreckten, übereinandergeschlagenen Beinen und dem offenen Buch auf seinem Schoß. Wenn er seinen Kopf, so wie jetzt, gesenkt hielt und ihm die Haare wie ein Vorhang vors Gesicht fielen, war sein Mund das Einzige, was von seinem Gesicht zu sehen war.
Isobel betrachtete den Silberring, der Varens Unterlippe auf der einen Seite umschloss. Wie es sich wohl anfühlen würde wenn sich das Metall gegen ihre Lippen drücken würde? Ein Junge sollte nicht solche Lippen haben, schoss es ihr durch den Kopf.
In dem Moment sah Varen auf und erwischte sie dabei, wie sie ihn anstarrte. Isobel zuckte zusammen und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden - garantiert lief sie gerade rot an. Sofort senkte sie den Kopf und streckte die Hand nach einem der Ausdrucke aus, auf denen es sich Slipper gemütlich gemacht hatte Die Katze schlug mit ihrer Tatze danach, als Isobel das Blatt Papier unter ihr hervorzog.
Es war das Porträt von Poes Mutter, einer jungen, puppenartigen Frau, die eine mit einer Schleife verzierte Mütze trug. Isobel strich mit dem Klebestift über die Rückseite.
Was würde wohl passieren, wenn das Projekt zu Ende war? Varen und sie waren jetzt zumindest befreundet. Das war eigentlich selbstverständlich, nach allem, was passiert war. Aber würde er sie noch mal fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte? Was, wenn er dachte, dass sie eigentlich gar nicht mit ihm zu The Grim Facade gehen wollte? Vielleicht dachte er, dass es nur eine Ausrede war, als sie gesagt hatte, dass sie nicht konnte? Was, wenn er dachte, dass sie ihren Vater nur als Vorwand benutzte?
Ihre Bewegungen wurden langsamer. Was hatte sie denn geglaubt? Dass sie so viel Glück hatte, dass er sie nach dem Projekt noch mal nach einem Date fragen würde? Und dann kam ihr noch ein anderer Gedanke: Was, wenn das gerade das letzte Mal war, dass sie vollkommen allein miteinander waren? Klar, sie würden sich natürlich in der Schule sehen, doch wenn sie jetzt nicht den Mund aufmachte, wenn sie jetzt nichts sagte, wäre das dann das Ende? Sie konnte es fast vor sich sehen, wie sich ihre Beziehung entwickeln würde. Sie würde dahinschwinden und in ein gelegentliches und jedes Mal peinliches »Hey, wie geht’s?« auflösen, bevor sie schließlich zu einem schwachen Zuwinken zwischen den Stunden wurde. Ohne das Literaturprojekt konnte sie nicht darauf bauen, dass sie Varen jemals wieder außerhalb von Mr Swansons Unterricht oder fern der Cafeteria treffen würde.
Isobel war klar: Heute Abend musste sie etwas sagen. Irgendetwas.
Sie spielte ein paar Sätze in ihrem Kopf durch, probierte sie nacheinander aus und ließ sie dann in Gedanken nachklingen. Aber alles hörte sich irgendwie lahm und beleidigend an. Was war denn nur los mit ihr? Warum konnte sie ihm nicht einfach geradeheraus sagen, dass sie ihn mochte?
Vielleicht, weil sie ihn mehr als einfach nur mochte.
Isobel ließ diesen Gedanken kreisen. Sie stellte den Klebestift ab. Ihre Gefühle erschreckten sie, doch das war die einzige Alternative, wenn sie sie nicht weiter verdrängen wollte. Nein, sie hatte es langsam satt, sie immer wieder wegzuschieben.
Entschlossen sah sie zu Varen. Als sie bemerkte,
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