Nevermore
durchdringenden grünen Augen, allerhöchstem zehn Jahre alt. Das Bild zeigte ihn von den Schultern aufwärts: Er trug einen grauen Pullunder, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Fast missmutig schien er den Fotografen anzublicken, so als ob ihm die Vorstellung, dass man ihn fotografierte, nicht gefiel. Blasse Halbkreise lagen unter seinen Augen und ließen ihn viel zu weltverdrossen für sein Alter wirken.
Isobel zog das Bild näher heran und suchte in dem kleinen Gesicht nach Spuren des Jungen, den sie kannte.
Sie schrak auf, als sich ein paar schlanke, beringte Finger um den Rahmen legten. Isobel ließ ihn los, drehte sich um und war plötzlich von denselben Augen wie auf dem Foto gefangen. Ihr Herz machte einen Satz, als Varen ihr sanft das Bild aus der Hand nahm und es wieder zurück ins Regal stellte.
»Du bist also eigentlich blond«, stellte sie in fast schon anklagendem Ton fest.
»Und wenn du es jemandem erzählst, dann werde ich dich nachts heimsuchen und deine unsterbliche Seele quälen.«
Versprochen? Isobel drehte sich schnell wieder zum Klavier, entsetzt darüber, dass sie das beinahe laut ausgesprochen hätte. Sie lenkte sich von dem Gedanken ab, indem sie wieder ihre Finger über die Tasten gleiten ließ. »Wer von euch spielt denn Klavier?«
Varen sah auf ihre Hand und dann auf die Tasten. »Niemand. Wie auch alles andere hier ist es nur dazu da, Eindruck zu schinden. Es ist noch nicht mal gestimmt.«
Isobel zog die Finger weg. Nein, dachte sie, da ist noch etwas anderes. Irgendetwas an der Art, wie sein Blick über die polierte Oberfläche des Klaviers gewandert war, bevor er sich nachdenklich nach innen gerichtet hatte.
»Wirklich niemand?«, bohrte sie nach.
»Meine Mutter, früher«, gab er zu.
»Das heißt, jetzt nicht mehr?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht schon.« Sein Blick kehrte wieder zurück ins Hier und Jetzt und er drückte ihr zwei Gabeln in die Hand, die er aus der Küche geholt haben musste. »Sie hat uns verlassen, als ich acht war.«
Sie blinzelte. Machte er Witze? Manchmal war das wirklich schwer zu sagen. »Mit wem habe ich dann -?«
»Du hast am Telefon mit meiner Stiefmutter gesprochen.«
Es war also ernst gemeint. Definitiv kein Scherz.
»Oh«, machte Isobel schockiert. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich … äh, das tut mir leid«, platzte sie schließlich heraus.
»Das muss es nicht«, sagte er. »Das ist schon eine ganze Weile her.« Damit nahm er die Tüte mit dem chinesischen Essen und ging an ihr vorbei auf den Flur. »Nimm bitte die Colas mit, ja?«
Als er aus dem Zimmer verschwunden war, atmete Isobel tief durch. Um sie herum machte sich Stille breit. Sie nahm die Colaflaschen von dem Beistelltisch, auf den Varen sie gestellt hatte, und verließ den Raum, wobei sie einen letzten Blick zurück auf den leeren Klavierstuhl warf.Varen wartete an der Treppe auf sie, eine Hand auf dem Geländer. Mit den Flaschen im Arm und den Gabeln in der Hand stieg Isobel die Treppe hinauf.
Sie folgte ihm und die Finger ihrer freien Hand glitten dabei über das Mahagonigeländer. Sie betrachtete den auf dem Rücken liegenden Vogel hinten auf Varens Jacke und versuchte dem Drang zu widerstehen, etwas zu sagen, um die Situation im Klavierzimmer wiedergutzumachen. Doch es gab keine Worte, die das konnten, also hielt Isobel den Mund lieber geschlossen.
Es ist seltsam, dachte sie, dass gerade das das Erste war, was er mir über sich erzählt. Sie sah, wie die schwarzen Strähnen seines Haares den hochgeschlagenen Kragen seiner Jacke streiften, und fragte sich, was wohl passiert war - was hatte seine Mutter wohl dazu gebracht zu gehen? Einen Moment lang glaubte sie, dass das vieles von Varens Verhalten erklärte, doch schon im nächsten Augenblick war sie vom Gegenteil überzeugt.
»Dieses Haus hat einen komischen Grundriss, ich weiß«, sagte Varen und wartete oben auf dem Treppenabsatz auf sie. »Es wurde oft umgebaut. Nach der viktorianischen Epoche wurde ein Pflegeheim daraus gemacht und in den Siebzigern hat man es dann zu einem Wohnhaus umgebaut.«
»Es ist riesig.« Isobel war ganz außer Puste.
Sie gingen eine weitere Treppe hinauf und erreichten den Treppenabsatz im zweiten Stock, der zu einem Gewölbegang führte, von dem mehrere Räume abgingen. Doch als sie Varen die Treppe weiter hochsteigen sah, wurde Isobel bewusst, dass hier noch nicht Endstation war. Also stapfte sie weiter.
Inzwischen war der Teppich zu Ende und sie liefen nun auf
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