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Nevermore

Nevermore

Titel: Nevermore Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelly Creagh
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dass er sie ansah, bekam sie Panik. Hatte er sie die ganze Zeit über beobachtet?
    »Äh, können wir eine Pause machen?«, fragte sie nervös.
    Er klappte das Buch zu und legte es beiseite.
    Wow, dachte sie, das war leichter als gedacht. Und was jetzt? Isobel nahm all ihren Mut zusammen, stand auf und stieg über Slipper, die aufgeregt mit dem Schwanz schlug. Isobel ließ sich neben Varen nieder, lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken gegen das Bett und saß jetzt nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt. Die Gesammelten Werke von Edgar Allan Poe waren das Einzige, was sie noch voneinander trennte.
    Sie streckte ihre Beine aus, genau wie er, schlug sie übereinander, nahm das Buch und schlug es auf. »Warum gefällt dir Poe so?«, wollte sie wissen.
    Varen zuckte mit den Schultern. »Warum gefällt es dir, rumzuschreien und wild herumzuhüpfen?«
    Sie seufzte und versuchte es noch einmal. »Hast du vielleicht ein Lieblingsgedicht oder so?«
    Er saß einen Augenblick lang schweigend da, dann streckte er den Arm nach dem Buch auf ihrem Schoß aus. Sorgfältig begann er, die Seiten eine nach der anderen umzublättern. Schließlich hielt er an. »Das hier.«
    Isobel sah hinunter auf das Buch und auf die Textspalte in der Seitenmitte.
     
    Von klein an ging ich eigne Bahn;
    Ich sah nicht so, wie andre sahn;
    Was mich ergriff zu Lust und Pein,
    Das mußte ungewöhnlich sein;
    Ich schöpfte Leid aus anderm Quell;
    Und klang mein Herz in Freude hell,
    War’s Klang, den nie ein andres gibt;
    Ich liebte, was nur ich geliebt.
     
    Und damals stieg - da ich noch jung,
    In wilden Gärens Dämmerung -
    Das Rätsel, das ich niemals löse,
    Aus jeden tiefen Gut und Böse:
    Aus Wildbach oder sanfter Quelle,
    Aus eisenrotem Felsgefälle,
    Aus Sonnenball, der mich umkreiste
    Und grell wie leuchtend Herbstgold gleißte,
    Aus Blitzes schmetterndem Donnerflug,
     
    Der jäh vom Himmel niederschlug,
    Aus Sturmwinds tollstem Orgelstück
    Und aus der Wolke, draus mein Blick,
    Wenn sonst auch rings der Himmel lachte,
    Eines Dämons dunkele Formen machte.
     
    »Das ist aber traurig«, meinte sie und blickte auf.
    »Das sind die meisten.«
    Isobel blätterte weiter. »Aber nicht alle, oder?«
    Darauf gab er ihr keine Antwort.
    Isobel hörte irgendwo in der Ferne eine Uhr ticken.
    »Liest du mir was vor?«, hörte sie sich fragen.
    Varen zögerte.
    Unerwartet rückte er näher und versetzte so all ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Seine Schulter streifte ihre und ließ sie am ganzen Körper erbeben. Sie versuchte, das Zittern ihrer Hände zu verbergen, indem sie sich am Buch festhielt. Varen blätterte erneut einige Seiten um. Isobel spürte jede seiner Bewegungen am ganzen Körper: wenn die Seite angehoben und wenn sie wieder abgesenkt wurde.
    Endlich hielt er inne und Isobel starrte hinunter auf die Spalte gedruckter Wörter, nicht imstande, auch nur eins davon zu verstehen. Seine warme und ruhige Hand legte sich um ihre, so wie eine Spinne ihre Beute umhüllt. Sein Daumen strich über die Stelle über ihren Knöcheln, wo vor einiger Zeit, in tiefvioletten Ziffern, seine Telefonnummer gestanden hatte. Isobels Atem setzte aus. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust und ihre Gedanken zersplitterten in sinnentleerte Bruchteile. Die ganze Zeit über blieben ihre Augen, ohne zu blinzeln, auf die offene Seite gerichtet. Zeilen ohne Sinn, schwarze Stäbe in einer ansonsten weißen Welt.
    »Ulalume«, las er und das Wort, das er »Ju-la-luhm« aus sprach, floss wie sanfte Noten von seinen Lippen. »Der Himmel war grau im Oktober, das Laub eine mürbe Zier - das Laub eine dorrende Zier …«
    Varen legte nun auch seine andere Hand um Isobels und sie konnte spüren, wie sich seine Silberringe in ihre Haut drückten Sie drehte den Kopf langsam zu ihm, traute sich jedoch nicht, ihm in die Augen zu schauen.
    Sie atmete ein und wurde mit seinem Duft belohnt, den sie bisher nicht hatte benennen können. Jetzt, da er ihr so nah war, glaubte sie, ihn fast entschlüsseln zu können. Zerbröselte Blätter. Der Geruch von Räucherstäbchen. Abgetragenes Leder. Auch eine Gewürznote war dabei, scharf und frisch wie getrocknete Orangenschalen.
    »Es war einsame Nacht im Oktober eines Jahrs, unerinnerlich mir …« Seine Stimme floss leise und sanft dahin.
    Isobel konzentrierte sich mehr auf Varens Tonfall als auf die Worte selbst, die sie wie Musik durchströmten. Ihre Hand zwischen seinen … ihr ganzer Körper vibrierte und ein schwummriges Gefühl wie das

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