Neville, Katherine - Der magische Zirkel
lebenspendende Wasser. Und sie hatte noch ein Geschenk, und das war der Wein, der an ihren Ufern geerntet wurde und nach dem Wien, einst Vindobona, benannt wurde.
Auch heute sah ich auf den Hügeln die Reihen der Rebstöcke und dazwischen das gelbe Stroh der letztjährigen Getreideernte – eine Gabe der Göttin Ceres. Aber der Wein war das Geschenk des Gottes Dionysos, das Schmerzen linderte, Träume schenkte und zum Tanz anregte, dem sich die Mänaden im Gefolge des Dionysos bis zur Raserei hingaben. Ich dachte, wenn es eine Stadt gab, die diesem Gott gehörte, dann war es Wien, die Stadt von Wein, Weib und Gesang.
Ich selbst war hier in frühester Jugend mit diesem Gott zusammengetroffen, als Jersey bei einer Matinee in der Staatsoper Richard Strauß «Ariadne auf Naxos» sang. Von ihrem Geliebten Theseus auf Naxos verlassen, will sich Ariadne dem Tod in die Arme stürzen. Als Bacchus erscheint, um sie zu retten, hält ihn Ariadne für den Gott des Todes, der sie in den Hades mitnehmen will. Sie erkennt nicht, daß es Bacchus ist, der sie liebt und heiraten will, um sie in den Himmel zu tragen und ihren Hochzeitskranz als leuchtendes Sternbild ans Fir mament zu hängen.
Aber ich war so jung, daß ich die Situation ebensowenig verstand wie Ariadne, und so kam es zu meinem ersten und wahrscheinlich einzigen Bühnenauftritt in meinem Leben, der, zumindest in meiner Familie, unvergessen blieb. Ich glaubte, wirklich, dieser schreckliche Fürst der Finsternis – der Tenor – würde meine Mutter in die Hölle verschleppen, und so lief ich auf die Bühne und versuchte, sie zu retten. Ich erntete schallendes Gelächter und wurde, entsetzlich beschämt, von der Bühne entfernt. Gott sei Dank war Onkel Laf da, um mich zu retten.
Nach der Vorstellung verdrückten wir uns aus Jerseys Garderobe, wo sie umgeben von einem Meer von Blumen Autogramme gab und sich zweifellos, sobald wir gegangen waren, bei ihrem Publikum für das Benehmen ihres Kindes entschuldigte. Laf tröstete mich mit Erdbeerkuchen und Schlagobers, und dann spazierten wir über den Ring. An einem Brunnen setzte sich Laf auf den Beckenrand und nahm mich auf den Schoß.
«Hör zu, Gavroche», sagte er, «ich will dir einen kle inen Rat geben. Beiß nie in die Waden von jemand wie Bacchus. Ich sage das nicht nur, weil der Tenor, der heute den Bacchus gesungen hat, vielleicht nie wieder mit deiner Mutter auftreten will, sondern auch, weil Bacchus oder Dionysos, wie man auch zu ihm sagen kann, ein großer Gott ist – auch wenn dieser Sänger nur so getan hat, als wäre er der Gott», fügte er tröstlicherweise hinzu.
«Es tut mir leid, daß ich den Mann gebissen habe, der mit Mama gesungen hat», sagte ich. Aber Laf hatte mich neugierig gemacht. «Du hast gesagt, daß er nur so getan hat, als wäre er der Gott. Gibt es ihn auch in echt – den Di-oo-ny-sos?» Ich gab mir Mühe, das Wort richtig auszusprechen, und Laf nickte lächelnd. «Hast du ihn schon mal gesehen? Wie sieht er aus?» fragte ich.
«Nicht jeder glaubt, daß es ihn gibt, Gavroche», sagte Laf. «Viele glauben, er kommt nur im Märchen vor. Aber für deine Großmutter Pandora war es etwas ganz Besonderes. Sie hat geglaubt, der Gott kommt zu denen, die ihn um Hilfe bitten. Aber man muß seine Hilfe wirklich dringend nötig haben, bevor man sich an ihn wendet. Er reitet auf einem Tier, das sein engster Gefährte ist – auf einem wilden schwarzen Panther mit smaragdgrünen Augen.»
Ich fand das ungeheuer aufregend. Das Bild des Tenors, dem ich erst eine Stunde zuvor in die Wade gebissen hatte, war völlig verschwunden, und ich konnte es kaum erwarten, dem echten Gott auf dem Rücken eines fauchenden Dschungeltiers auf der Kärntnerstraße zu begegnen.
«Wenn ich seine Hilfe wirklich brauche und er mich rettet, bringt er mich dann fort, so wie Ariadne?» fragte ich.
«Da bin ich ganz sicher, Gavroche, wenn es das ist, was du möchtest», versicherte mir Laf. «Aber dazu muß ich dir noch etwas sagen. Der Gott Dionysos liebte Ariadne, und weil sie eine Sterbliche war, kam er wegen ihr auf die Erde. Aber wenn ein großer Gott auf die Erde kommt, kann das allerlei Probleme schaffen. Und deshalb mußt du ganz sicher sein, ihn nur dann um Hilfe zu bitten, wenn du sie wirklich und wahrhaftig brauchst. Du darfst keinen blinden A larm schlagen.»
Ich sagte: «Okay. Aber was sind das für Probleme? Und wenn ich zufällig einen Fehler mache, was passiert dann?» Laf nahm meine Hand und sah mir in
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