Neville, Katherine - Der magische Zirkel
auf, legte sie wieder zusammen und war sichtlich ungeduldig.
«Vielleicht ist er ja schon hier, nachdem wir uns verspätet haben. Ich will mal nachsehen. Bestell inzwischen eine Vorspeise für uns beide. Ich schicke dir den Ober.» Er stand auf, sah sich wieder um und ließ mich allein am Tisch zurück.
Ich nahm noch einen Schluck Wein, während ich die Speisekarte studierte. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, aber gerade als ich mich fragte, ob ich den Ober nun selbst holen sollte, fiel ein Schatten über den Tisch. Ich blickte auf und sah die hohe Gestalt eines Mannes in einem grünen Lodenmantel. Die breite Krempe seines Huts überschattete sein Gesicht, so daß ich seine Züge nicht erkennen konnte. Über der Schulter trug er eine Ledertasche, die ähnlich wie meine aussah. Er legte sie auf den Platz, den Wolfgang vor einiger Zeit geräumt hatte.
«Darf ich mich zu Ihnen setzen?» fragte er leise. Ohne meine Zustimmung abzuwarten, begann er seinen Mantel aufzuknöpfen. Er zog ihn aus und hängte ihn an einen Haken, während ich mich nervös nach Wolfgang umsah.
«Ich habe unseren Herrn Hauser eben in der Küche gesehen», sagte er, «und ihn gebeten, uns allein zu lassen.»
Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er seinen Hut abgenommen und saß mir gegenüber. Ich war fasziniert.
Sein Gesicht war verwittert wie ein alter Stein und wirkte dennoch wie eine zeitlos schöne Maske. Das lange, dunkle Haar, durch das sich einige Silberfäden zogen, war straff zurückgekämmt, so daß sein kräftiges Kinn und die hohen Backenknochen deutlich zu sehen waren, und hing zu mehreren Zöpfen geflochten auf seine Schultern.
Unter einer gefütterten Lederweste trug er ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln, das am Hals offen war und eine Kette aus kunstvoll geschnitzten bunten Perlen enthüllte. Die Weste war in schillernden Farben mit Vogel- und Ziermotiven bestickt.
Die Farbe und der tiefe Glanz seiner alten Augen unter der nachdenklichen Stirn waren nur mit den seltensten Edelsteinen zu vergleichen; als mischten sich Mitternachtsblau und Smaragdgrün und Ebenholzschwarz in schimmernden Teichen, auf deren Grund eine dunkle Flamme brannte. Wolfgang hatte mir den Mann ausgezeichnet beschrieben.
«Wenn Sie mich so ansehen, meine Liebe, machen Sie mich verlegen», sagte er. Dann lächelte er, aber bevor ich antworten konnte, nahm er mir die Speisekarte aus der Hand und auch mein Weinglas.
«Ich habe mir eine weitere Freiheit erlaubt», sagte er mit seiner leisen, fremdartig betonenden Stimme. «Ich habe ein paar Flaschen Côtes du Rhône aus meinen Weinbergen bei Avignon in die Küche gebracht. Und dann habe ich für Sie einen Tafelspitz bestellt, weil unser Freund Wolfgang uns nur allein lassen wollte, wenn Sie etwas Ordentliches essen würden. Ich hoffe, Sie mögen Tafelspitz.»
Der Ober brachte die neue Flasche und frische Gläser, schenkte ein und zog sich rasch wieder zurück, während Dacian fortfuhr: «Nachdem Sie meine einzige Erbin sind, werden mein Weingut und die dort geernteten Weine eines Tages Ihnen gehören. Deshalb freut es mich, daß Sie Bekanntschaft mit ihnen machen – so wie es mich freut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Ihr Großvater, Dacian Bassarides. Und für mich ist eine so hübsche Enkeltochter ein schöneres Geschenk als alle Weine der Vaucluse.»
Heiliger Bimbam, dachte ich, als wir anstießen. Wenn sich alle meine Erbschaften als so problematisch erwiesen wie die letzte, würde ich nicht lang genug leben, um irgend etwas zu erben.
«Freut mich, Sie kennenzulernen», sagte ich, und ich meinte es. «Aber ich muß Ihnen erklären, daß ich von unserer Verwandtschaft erst vor einigen Minuten erfahren habe. Sie werden verstehen, daß ich noch etwas verunsichert bin. Meine Großmutter Pandora starb, bevor ich geboren wurde. In meiner Familie wurde kaum über Pandora gesprochen, deshalb weiß ich über sie ebensowenig wie über Dacian Bassarides. Aber wenn Sie wirklich mein Großvater sind, wüßte ich gern, warum man mir dies all die Jahre verheimlicht hat. Wissen es denn die anderen?»
«Natürlich muß das ein Schock für dich sein», sagte Dacian mit einer schwungvollen Bewegung seiner langen, anmutigen Hände – den Händen eines Geigers, wie mir einfiel. «Ich darf ‹du› sagen, nicht wahr? Und ich bitte um die gleiche Anrede.»
Ich nickte, worauf er fortfuhr: «Ich werde dir alles erklären, sogar einige Dinge, die du vielleicht lieber nicht
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