Neville, Katherine - Der magische Zirkel
hatte, für die sie nach calvinistischer Auffassung «auserwählt» waren. Sie hatte seinen Vater in Kriegszeiten verlassen, ihn bestohlen und sich mit Zigeunern aus dem Staub gemacht. Und insgeheim hegte er einen noch schlimmeren Verdacht, denn wer weiß, wozu die ungezügelten Leidenschaften eine solche Frau verleitet hatten. Hätte doch nur sein Vater bei dieser Frau die Oberhand gewonnen, wie es sein Recht gewesen wäre, in den Augen Gottes und des Gesetzes! Alles, was Cho besaß, hätte nach Hieronymus Auffassung nun ihm gehören sollen.
Statt dessen, argumentierte er, hatte er wegen seiner Stiefmutter nur eine Armenausbildung erhalten. Um das Schicksal seiner Halbschwester, die Gott weiß wohin fortgeschickt worden war, machte er sich keine Gedanken. Schließlich floß in ihren Adern auch Clios Blut. Was er wollte, war sein Erbe. Er hatte die Papiere seines Vaters, die die Kirche für ihn aufbewahrt hatte, genau studiert und verfügte nun über eine ausgezeichnete Vorstellung von der Art und dem Wert jener Artefakte und Dokumente, die seine Stiefmutter gesammelt hatte und die sie seinen Vater weder sehen noch verkaufen lassen wollte. Inzwischen, so rechnete er, würden sie noch mehr wert sein, weil man den Wert solcher Dinge besser schätzen gelernt hatte. Er war entschlossen, seine Stiefmutter zu finden und sein Recht einzufordern. Dieser Tag der Abrechnung würde vielleicht Jahre auf sich warten lassen – aber er würde kommen.
Im Jahr 1899 wurde überall in Europa der Beginn des letzten Jahrhunderts unseres Jahrtausends gefeiert, das eigentlich erst 1901 begann. Das Schloß Schönbrunn wurde zum ersten Mal mit elektrischem Licht beleuchtet. Riesenräder drehten sich in vielen Städten. Wissenschaft und Technik blühten.
Doch keine der neuen Erfindungen fand in der Presse und beim Publikum so viel Beachtung wie die Entdeckung eines einzigen Gegenstands aus antiker Zeit. Am Weihnachtstag 1899 reparierten Arbeiter eine Wasserleitung in den Kellern der Festung Hohensalzburg und entdeckten dort eine große goldene Schale, von der man glaubte, daß sie aus der Zeit 1000 v. Chr. stammte.
Sachverständige wurden herangezogen, und es entstanden verschiedene Theorien über die Herkunft der Schale. Einige glaubten, sie stamme aus dem ersten Tempel Salomos; andere, sie habe zu den Gegenständen gehört, die für das Goldene Kalb eingeschmolzen und später in ihrer ursprünglichen Form wiederhergestellt worden waren. Einige behaupteten, die Formgebung sei griechisch, andere plädierten für makedonisch oder phrygisch. Nachdem diese Kulturen über Jahrtausende hinweg Handelsbeziehungen miteinander hatten, konnte man übereinstimmend nur feststellen, daß die Schale alt war und orientalischen Ursprungs. Sie sollte den ganzen Januar 1900 in der Hohensalzburg ausgestellt werden, bevor sie nach Wien in die Schatzkammer gebracht wurde.
Hieronymus Behn, inzwischen fast vierzig, hatte die vergangenen zwanzig Jahre damit verbracht, die Frau zu suchen, die sein Erbe gestohlen und ihm praktisch das Leben verdorben hatte. Als er in der niederländischen Presse die Berichte über die Salzburger Schale las, wußte er, wo er sie finden würde. Eine der seltenen Schriftrollen, die sich sein Vater von Clio aneignen konnte, befand sich noch in Hieronymus Besitz, zusammen mit der einzigen Kopie von Clios umfangreichen Forschungen über dieses Dokument. Wenn er sich nicht irrte, bezog sich diese Schriftrolle direkt auf die kürzlich aufgetauchte Schale.
Er fuhr mit dem Zug von Amsterdam nach Salzburg, wo er einen Tag vor Eröffnung der Ausstellung eintraf. Vom Bahnhof aus ging er zu Fuß zur Burg hinauf, wo er sich sofort an den Kurator wandte. Es war nicht die Schale, die ihn interessierte, sondern die Frau, die sicherlich nach Salzburg kommen würde, um die Schale zu besichtigen. Hieronymus mußte nur schnell genug den richtigen Köder auslegen.
Nachdem er dem Kurator die seltene Schriftrolle überreicht hatte, gab er ihm auch Clios Forschungsarbeiten, von denen er behauptete, es wären die seines verstorbenen Vaters, Erasmus Behn, einem bekannten Förderer Schliemanns. Hieronymus ging bereitwillig auf die Forderung des Museums ein, das die Echtheit dieser Dokumente beglaubigen lassen wollte. Er bat nur, daß man bei der Eröffnung auf ihren allgemeinen Inhalt hinweisen und den Namen ihres Spenders, seines verstorbenen Vaters, nennen sollte. Nachdem Hieronymus die Forschungsnotizen genau gelesen hatte, wußte er, wenn sie
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