Neville, Katherine - Der magische Zirkel
schließlich die Gräber von Mykenae fand, die den größten Hort antiker Schätze enthielten.
Clio heiratete 1866 im Alter von 21 Jahren einen Niederländer, der wie Schliemann durch den Krieg reich geworden war und in Schliemanns archäologische Projekte investiert hatte. Dieser Mann war Erasmus Behn. Er war Witwer und hatte einen kleinen Sohn, Hieronymus, der eines Tages mein Vater sein sollte. Ähnlich wie das große Vermögen, das Heinrich Schliemann mit Heereslieferungen verdient hatte, fast ausschließlich zur Plünderung früherer Kulturen genutzt wurde, war das Vermögen meines Großvaters Erasmus Behn zu nichts Geringerem vorgesehen als einer vollständigen Umwandlung der menschlichen Zukunft, die ganz nach seiner Vorstellung geformt werden sollte – und zu noch etwas mehr.
Erasmus Behn hatte auch Geld in jene utopische Gemeinschaft in der Schweiz gesteckt, die auf zahlreichen neuen Theorien basierte einschließlich jener der «Auslese», dem genetischen Aussondern und Auswählen oder der Zuchtwahl, die im damaligen Bereich des wissenschaftlichen Interesses eine große Rolle spielte. In solchen utopischen Gemeinschaften wurde experimentiert, um verbesserte Erbanlagen bei Pflanzen und Tieren zu erreichen, und Erasmus verbrachte jeden Sommer in den Alpen, um seine Investition zu begutachten.
Clio war das alles verhaßt. Sie war in einer protestantischen Familie aufgewachsen und zu Toleranz und Großzügigkeit erzogen worden. Der Mann, den sie geheiratet hatte, war reich und intelligent, und er sah auch gut aus, aber es dauerte trotzdem nicht lang, bis sie sich über Erasmus Behn keine Illusionen mehr machte – besonders nicht über seine Ansichten zur Perfektionierung der Welt. Sie erkannte bald, daß sie an einen harten, bornierten Mann geraten war, der Frauen und Kinder für bewegliches Eigentum hielt und sich und seinesgleichen nahezu jedem anderen haushoch überlegen fühlte.
Clio entdeckte auch bald, daß Erasmus sie nicht wegen ihrer rotblo nden Schönheit, ihres gesunden Körpers oder ihres klugen Verstandes geheiratet hatte, sondern um sich das große Vermögen zu sichern, das sie als einziges Kind nach dem Tod ihres Vaters erben würde – und mehr noch wegen der historisch wertvollen Sammlung von Artefakten, Talismanen und Schriftrollen, zu der sie ebenfalls auch einen Teil beigetragen hatte und die sie ebenfalls von ihrer Familie erben würde.
Erasmus schien fasziniert, ja geradezu besessen von der Idee, mehr über die Geheimnisse der Vergangenheit zu erfahren sowie über Kräfte, die in der Zukunft erlangt werden könnten, während er das, was die Gegenwart von ihm verlangte, vernachlässigte. Als Clio zwei Jahre nach ihrer Hochzeit eine Tochter zur Welt brachte, betrachtete Erasmus seine ehelichen Pflichten als erfüllt. Wenn man den Sohn aus seiner früheren Ehe hinzuzählte, hatte er dies sogar zweimal getan. Obwohl dies eine Situation schuf, die im vorigen Jahrhundert in den Ehen der höheren Schichten gang und gäbe war, sollte unsere Familiengeschichte bald eine sehr merkwürdige und ganz andere Wendung nehmen.
Die Sommer verbrachte Erasmus mit Clio in den Bergen bei seiner utopistischen Gemeinde. Bald wurde klar, daß er es sich nicht mehr leisten konnte, weiterhin Jahr für Jahr Geld in das Projekt zu stecken. Doch in dieser Region interessierte ihn noch etwas anderes. Hier in der Nähe gab es etwas, das sich von großem Wert erweisen könnte: heidnische Schreine und Höhlen, von denen einige bis in die Zeit des Neandertalers zurückreichten und aufgrund ihrer Unzugänglichkeit weitgehend unbekannt und unerforscht waren. Nur eine Gruppe Zigeuner hielt sich manchmal im Sommer dort in der Nähe auf. Erasmus sah schon goldene Artefakte und hatte eine Menge Rosinen im Kopf. Er meinte, er würde etwas ganz besonders Wertvolles finden, etwas von großer Macht, und interessanterweise stimmte ihm Clio zu.
Er mußte sie nicht lange bitten, sich um die Unterstützung der Zigeuner zu bemühen, denn die Archäologie war ihre große Liebe. Im Sommer nach der Geburt ihrer Tochter brach sie mit ihren Helfern auf. Während sie die alpinen Höhlen erforschte, stellte Clio fest, daß die Zigeuner ungewöhnlich viel sowohl über die Bedeutung als auch den geschichtlichen Hintergrund der Artefakte wußten, die sie ans Tageslicht förderten. Sie begann, immer mehr von ihrer Sammlung den Zigeunern zur Aufbewahrung zu überlassen, denn es war nicht nur die Lebensweise dieses Volkes, die sie
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