Neville, Katherine - Der magische Zirkel
faszinierte.
Clios Expeditionen mit den Zigeunern gingen bald über den ursprünglich geplanten Rahmen hinaus. Sie k ehrte mit interessanten Objekten und Keramikfunden zurück. Das ungewöhnlichste Stück, das sie in einer Höhle zwischen Interlaken und Bern gefunden hatten, war die Statue einer alten Bärengöttin mit einem Totembären. In derselben Höhle hatten sie in größerer Tiefe Tonkrüge gefunden, die sehr alt aussahen und Schriftrollen enthielten, die sie sofort zu entziffern versuchte.
Bei ihrer Rückkehr in die Niederlande in jenem Herbst mußte Clio feststellen, daß Erasmus einige ihrer Dokumente und Artefakte an sich genommen und mehrere sogar verkauft hatte, um seine Finanzen aufzubessern. Noch ärgerlicher war, daß er sich auch viele ihrer Notizen und Übersetzungen der Dokumente angeeignet hatte, die sie historisch für besonders wertvoll hielt.
Als sie Erasmus zur Rede stellte, konterte er, indem er auf die Schriftrollen hinwies, die sie in den Händen der Zigeuner gelassen hatte. Er hatte gehofft, sie könnten zu weiteren Schätzen führen, und als ihr rechtmäßiger Gatte bestand er darauf, daß sämtliche Funde ihm gehörten. Daraufhin packte Clio heimlich die Schätze, die sich noch in ihren Händen befanden, zusammen und verwahrte sie in einem Tresor.
Während des nächsten halben Jahres wurde Erasmus neunjähriger Sohn Hieronymus Zeuge der häufigen und erbitterten Streitereien zwischen seinem Vater und einer, wie er es sah, widerborstigen Stiefmutter, die sich nicht dem Willen ihres Mannes beugen wollte. Dieser Zank pflanzte einen Samen in seine junge Seele, der später aufging und gefährliche Früchte trug.
Im Sommer 1879, als Hieronymus zehn und seine kleine Stiefschwester knapp zwei Jahre alt war, starb Clios Vater, und seine reiche Sammlung an Manuskripten und Objekten gelangte in ihren Besitz. Das Geld hatte er vernünftigerweise als Treuhandvermögen angelegt zur alleinigen Nutzung von Clio und ihren Nachfahren – und er hatte einen Brief hinterlassen, der nur von ihr geöffnet werden durfte. Aufgrund dieses Briefes plante Clio eine ausgedehnte Reise mit den Zigeunern über die Schweizer Grenze nach Italien: die Kinder sollten bei ihrem Vater bleiben. Aber diesmal bestand Erasmus darauf, sie zu begleiten. Er hatte den Verdacht, daß seine junge Frau noch mehr Funde zurückhielt – und er glaubte zu wissen, warum.
Dann verschwand Clio einfach eines Nachts mit den Zigeunern und hinterließ nur die Nachricht, sie würde bis Ende des Sommers zurück sein. Aber dazu sollte es nie kommen. Von diesem Zeitpunkt an folgte wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt ein Ereignis auf das andere.
Am 19. Juli 1870 brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Die utopische Gemeinde löste sich auf, als bedingt durch den Krieg von draußen kein Geld mehr kam. Erasmus Behn – mit zwei Kindern in seiner Obhut, einer vermißten Frau und schwindendem Vermögen – beeilte sich, nach Hause zu kommen, um die Dokumente und Artefakte von Clio, die sich noch in seinem Besitz befanden, in Sicherheit zu bringen für den Fall, daß die Niederlande von feindlichen Truppen überrannt würden.
Erasmus wurde verwundet, als er das Kampfgebiet zwischen der Schweiz und Belgien durchquerte. Mit Müh und Not erreichte er mit den Kindern die Heimat, bevor er starb. Das wenige Geld, das noch vorhanden war, verwendete die Kirche am Ort für die Erziehung des Sohnes; und die Tochter aus der Ehe mit Clio kam in ein Findelhaus. Es scheint das Schicksal unserer Familie zu sein – wie das vieler anderer Familien –, durch Kriege getrennt zu werden. In diesem Fall jedoch werden wir nie genau wissen, ob Clios dauerhafte Trennung von Erasmus Zufall oder Absicht war. Wäre sie zurückgekommen, wenn der Krieg nicht dazwischengekommen wäre?
Acht Jahre nach dem Tod von Erasmus Behn beendete sein Sohn Hieronymus die Schule und begann mit der Ausbildung zum calvinistischen Geistlichen, dem einzigen Beruf – ausgenommen das Militär – der einem Jungen mit begrenzten finanziellen Mitteln offenstand. Diese Ausbildung bestärkte ihn nur noch in den Ansichten und Meinungen, die er im Lauf der zehn Jahre, die er mit seinem Vater verbrachte, übernommen hatte. Die strengen Prinzipien, die er von der Kirche eingeschärft bekam, wurden in der Tat seine erste Passion.
Hieronymus Behn nahm es seiner Stiefmutter Clio sehr übel, wie sie sich benommen hatte. Für ihn war sie diejenige, die ihn und seinen Vater aller Dinge beraubt
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