Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Interesse erzählen…»
«Eine Familiengeschichte?» fragte ich in einem Ton, der eine dezente Aufforderung zur Zurückhaltung ausdrücken sollte. Hatte Onkel Laf nicht am Telefon gesagt, was er mir zu sagen habe, sei vertraulich?
«Nicht eigentlich eine Familiengeschichte», entgegnete Laf und tätschelte lächelnd meine Hand. «Es ist meine eigene Geschichte, die du bestimmt noch nicht kennst, denn dein Vater kennt sie ebensowenig, wie mein Halbbruder Earnest sie gekannt hat. Und Bambi hier, die meint, sie würde über jedes dunkle Geheimnis meines Lebens Bescheid wissen, kennt sie auch nicht.»
Das schien eine merkwürdige Charakterisierung der schönen, aber ein bißchen faden Bambi zu sein, deren Betragen wenig Interesse an welchem Thema auch immer vermuten ließ.
«Weißt du, Gavroche, trotz meines langen und abwechslungsreichen Lebens», fuhr Laf fort, «erinnere ich mich an alles, was ich gesehen, geschmeckt und gerochen habe. Irgendwann muß ich meine Philo sophie zu Papier bringen, daß Düfte und Gerüche in der Tat die Schlüssel zu früheren Erinnerungen sind. Aber am lebhaftesten bleiben einem Dinge in Erinnerung, die entweder mit großer Schönheit oder großer Bitterkeit verbunden sind. Der Tag, an dem ich Pandora, deine Großmutter, zum ersten Mal sah, war eine Kombination von beidem.»
Die Kellner servierten unser Essen und nahmen mit schwungvoller Geste die Deckel von den Speisen. Laf lächelte mich an und fuhr fort.
«Um zu erklären, wie alles begann, muß ich euch leider erst das Traurige erzählen – und dann das Schöne.
Ich wurde Ende des Jahres 1900 in der Provinz Natal an der Ostküste von Südafrika geboren. Natal erhielt seinen Namen vierhundert Jahre zuvor von dem Seefahrer und Entdecker Vasco da Gama, denn er erblickte diesen Ort zufällig am Weihnachtstag, dem 25. Dezember 1497. Die astrologischen Zeichen zur Zeit meiner Geburt waren höchst ungewöhnlich: Fünf Planeten passierten gleichzeitig das Sternbild des Schützen. Der bedeutendste war Uranus, der Bringer der neuen Weltordnung, der Planet, von dem man erwartete, daß er das neue Zeitalter des Wassermanns einleiten würde – oder vielleicht sollte man besser sagen, eine neue Weltordnung, denn schon vor langer Zeit war prophezeit worden, daß das Zeitalter des Wassermanns mit der gewaltsamen Zerstörung der alten Ordnung beginnen würde. Für meine Familie dort in Natal hatte diese Umwälzung schon längst begonnen. Ich wurde geboren, als der Burenkrieg in vollem Gange war – ein Krieg zwischen den englischen Siedlern und den Nachkommen der schon früher eingewanderten Holländer oder Buren, wie sie sich nannten. Wir Engländer nannten sie – »
«Wir Engländer, Onkel Laf?» warf ich überrascht ein. «Ich dachte, unsere Familie stamme von Afrikaandern ab.»
«Mein Stiefvater – dein Großvater Hieronymus Behn – konnte sich mit Fug und Recht als Bure bezeichnen», sagte Laf mit einem bitteren Lächeln. «Aber mein leiblicher Vater war Engländer und meine Mutter Holländerin. Die Herkunft meiner Eltern und meine Geburt in einem von einem solchen Krieg zerrissenen Land erklären wohl zur Genüge meine Erbitterung gegenüber diesen verdammten Buren. Dieser Krieg löste eine Kette von Ereignissen aus, die bald die ganze Welt in Mitleidenschaft zogen. Ich brauche nur an damals zu denken, und schon steigt mir die Galle hoch. Wie tief und schmerzlich solche Gefühle sind, Gavroche», sagte Laf, «kann nur jemand nachvollziehen, der die Geschichte meines merkwürdigen Heimatlandes kennt. Ich sage ‹merkwürdig›, weil es nicht als ein Staat, sondern als ein geschäftliches Unternehmen, eine Handelsgesellschaft begann. Es wurde bekannt als the Company, und diese Kompanie schuf sich von Anfang an eine private, völlig eigene Welt auf einem dunklen und wenig bekannten Kontinent. Sie schuf eine Isolation, die so undurchdringlich war wie die dornigen Hecken der Bittermandel, die zum Symbol der Buren wurden und ihrem Wunsch, getrennt vom Rest der Welt zu leben…»
Die Bittermandelhecke
Seit Hunderten von Jahren, seit die niederländische Ostindische Kompanie in der Tafelbucht die erste Wasser- und Verpflegungsstation gegründet hatte, ernährten sich viele Buren von der Viehzucht. Mit ihren Schaf -und Rinderherden waren sie beweglicher als die Ackerbau treibenden Siedler. Wenn den Viehzüchtern die Geld- und Machtgier der Kompanie nicht paßte, zogen sie einfach fort und suchten sich neue Weideplätze, und das wurde
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