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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel Kostenlos Bücher Online Lesen
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möglich», gab Josef zu, «aber kaum, indem er Fleisch und Blut an- und auszieht wie einen Mantel, wie sich manche das vorstellen! Nein, mein weiser Freund, es war nicht primitiver Aberglaube, der mich hergeführt hat. Ich suche die Wahrheit.»
    «Was du suchst, mein Freund», sagte Lovernios kopfschüttelnd, «wirst du niemals in diesen Tongefäßen finden. Sie enthalten nur Worte.»
    Josef bückte sich und nahm aus dem Netz eine Amphore, die Miriam mit einer Eins gekennzeichnet hatte. Er erbrach das Siegel des Tongefäßes, zog die Schriftrolle heraus, öffnete sie, und dann las er laut vor:

    An: Josef von Arimathäa,
    Glastonbury, Britannia
    Von: Miriam von Magdali,
    Bethanien, Judäa

    Innig geliebter Josef,
    vielen Dank für Deinen Brief, den uns Jakobus Zebedäus nach seinem Besuch bei Dir brachte. Es tut mir leid, daß es ein ganzes Jahr gedauert hat, Deine Bitte zu erfüllen, aber wie Du sicher von Jakobus erfahren hast, hat sich hier alles verändert – alles.
    O Josef, wie sehr du mir fehlst! Wie dankbar bin ich Dir, daß Du mich gebeten hast, diese Aufgabe zu übernehmen. Es scheint, daß nur Du Dich daran erinnerst, wie sehr der Meister auf Frauen angewiesen war. Frauen gaben ihm Obdach, reisten mit ihm und lehrten, heilten und halfen an seiner Seite. Mit seiner Mutter folgten wir ihm nach Golgotha; wir standen weinend unter dem. Kreuz, bis er starb, und gingen zum Grab, um seinen Leichnam zu waschen, mit Kräutern zu salben und in feines Linnen zu hüllen. Kurz gesagt, wir Frauen waren es, die von Anfang bis Ende beim Meister blieben – ja sogar bis über das Ende hinaus, bis sein Geist zum Himmel aufstieg.
    Josef, ich bedaure, daß ich meinen aufgewühlten Gefühlen so freien Lauf lasse. Aber als Du durch Deinen Brief über die Meere hinweg mit mir sprachst, fühlte ich mich wie eine Ertrinkende, die im letzten Augenblick gerettet wurde. Ich stimme Dir zu, daß in den letzten Tagen des Meisters etwas Entscheidendes geschah, und bin um so enttäuschter, daß ich Deinem Wunsch nicht nachkommen und nicht sofort nach Britannien reisen kann. Aber diese Verzögerung könnte ihr Gutes haben, denn ich habe vielleicht etwas entdeckt, das in keinem der Berichte, die ich für Dich gesammelt habe, erwähnt wird: Es bezieht sich auf Ephesus.
    Miriam, die Mutter des Meisters, die auch zu mir wie eine Mutter war, ist ebenso beunruhigt wie wir über das, was in so kurzer Zeit aus dem Vermächtnis ihres Sohnes geworden ist. Sie will nach Ephesus an der Ionischen Küste ziehen und hat mich gebeten, sie zu begleiten und für den Rest des Jahres bei ihr zu bleiben, bis sie sich dort eingerichtet und eingelebt hat.
    Ihr Beschützer, der junge Johannes Zebedäus, den der Meister parthenos zu nennen pflegte, scheint jetzt ein erwachsener Mann zu sein. Er hat in Ortygia, im Wachtelland vor der Stadt, ein kleines Steinhaus gebaut. Vielleicht kennst Du den Ort von Deinen Reisen. Der Meister muß ihn gekannt haben, denn er hat ihn selbst ausgewählt und seiner Mutter kurz vor seinem Tod davon erzählt. Es ist merkwürdig, daß er gerade diesen Ort gewählt hat. Das Haus, sagte man mir, liegt nur einen Steinwurf entfernt von der heiligen Quelle, von der die Griechen glauben, daß sie die Stelle kennzeichnet, wo ihre Göttin Artemis geboren wurde. Aber da ist noch mehr.
    Jedes Jahr an ihrem Eostre-Fest – wenn im Frühling zur Tagundnachtgleiche die Geburt der Göttin gefeiert wird – kommen Pilger aus der ganzen griechischen Welt nach Ortygia. Kinder suchen am Wachtelberg nach den roten Eostre-Eiern, die Glück und Fruchtbarkeit symbolisieren und der Göttin geweiht werden. Dieses Fest wird zur gleichen Zeit wie unser Passahfest gefeiert. Genau in der Passahwoche vor zwei Jahren starb der Meister. Deshalb scheinen mir diese heidnische Göttin und ihre Riten auf seltsame Weise mit der Erinnerung an den Tod des Meisters zusammenzuhängen und auch mit der einen Sache, von der ich Dir sagte, daß sie in all den anderen Erinnerungsberichten fehlt: eine Geschichte, die uns der Meister auf dem Berg erzählt hat an dem Tag, als Du vor zwei Jahren nach der Rückkehr von Deiner Seereise in mein Haus kamst.
    «Als ich jung war», erzählte uns der Meister an jenem Vormittag oben auf der blühenden Wiese, «reiste ich zu meinen fremden Völkern. Ich lernte, daß die Menschen im fernen Norden für etwas, das sie für wahr halten, ein Wort haben. Es heißt dm, was auch ‹glauben› und ‹geloben› bedeutet. Wie in unserer jüdischen

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