Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Dina durch die Weizenfelder ging, um sich mit einheimischen Mädchen zu treffen, begegnete sie Sichem, dem Sohn von Hemor. Sichem begehrte sie, und er nahm und schändete sie dort auf dem Feld. Aber als Sichem merkte, daß ihm Dina etwas bedeutete, nahm er sie mit nach Hause und bat seinen Vater, sie ihm zur Frau zu geben.
Hemor ging zu Dinas Vater Jakob und bot ihm an, jeden Brautpreis zu zahlen, den Jakob verlangte. Jakob und seine Söhne erklärten sich einverstanden, aber nur, wenn sich alle männlichen Kanaaniter beschneiden ließen, wie es jüdischer Brauch verlangte. Aber zwei von Dinas Brüdern, Simeon und Levi, waren nicht ehrlich; denn kaum hatten sich die kanaanitischen Männer beschneiden lassen, überfielen und zerstörten sie deren Häuser, erschlugen alle Männer, holten ihre Schwester Dina gewaltsam aus Sichems Haus, nahmen Frauen und Kinder gefangen und machten sich mit Rindern und Schafen und allem, was sie geraubt hatten, davon. Jakobs Familie mußte aus Kanaan fliehen, denn die Bewohner Kanaans hätten für diese Täuschung und das blutige Massaker Vergeltung üben können. Zu dieser Geschichte sind uns zwei weitere Umstände bekannt:
Jakob und seine Familie kehrten nie nach Kanaan zurück. Bei dem Brunnen, den sie dort gegraben hatten – dem Jakobsbrunnen –, wuchs die Eiche von Sichern, wo Mose die Hebräer den ersten Altar errichten ließ nach ihrer Rückkehr aus Ägypten. Unter dem heute berühmten Baum vergrub Jakob alle Kleider, Juwelen und Schätze, sogar alle fremden Götteridole – alles, was seine Frauen, Nebenfrauen und Diener und die Gefangenen aus Kanaan besaßen –, damit sie alle reine Kleider anlegen und ein neues Leben beginnen konnten, bevor sie in das Land seines Vaters aufbrachen.
Zwischen dem Land Kanaan, das sie hinter sich ließen, und dem Land Judäa, das vor ihnen lag, gebar Rahel bei Bethlehem das dreizehnte und letzte Kind, das sie Benoni, Jakob aber Benjamin nannte – und dann starb sie.
«Und was geschah mit Dina, der Ursache all dieser Schicksalsschläge und Veränderungen?» fragte Lovernios, als Josef geendet hatte.
«Wir wissen nicht, was sie von dem Verrat hielt, den ihre Brüder in ihrem Namen begangen hatten, denn sie wird in der Thora hier zum letzten Mal erwähnt», antwortete Josef. «Aber die Dinge, die unter jener Eiche vergraben wurden, werden oft ‹Dinas Vermächtnis› genannt, denn als die Hebräer hier ihre Vergangenheit und sogar ihre Identität abstreiften, nahm ihr Schicksal eine andere Wendung. Seit diesem Tag vor fast zweitausend Jahren, als sie Kanaan – das heutige Samaria – verließen und nach Hebron – heute Judäa – zogen, waren sie nicht mehr die Söhne Jakobs, sondern die Söhne Israels.»
«Meinst du, das war die verborgene Botschaft des Meisters?» fragte Lovernios. «Daß wir unsere Vergangenheit abstreifen, um zu neuem Leben wiedergeboren zu werden?»
«Das ist es, was ich aus dem Inhalt dieser versiegelten Rollen erfahren möchte», erwiderte Josef.
«Ich glaube, ich kann schon nach dem Brief dieser Frau erraten, was er im Sinn hatte und warum er seinen Schülern diese Geschichte erzählt hat», sagte der Druide. «Es hat etwas mit dem Jakobsbrunnen und mit dem Baum zu tun, von dem du gesprochen hast.»
Josef blickte in die tiefen blauen Augen seines Gegenübers, die im Feuerschein beinahe schwarz wirkten.
«Bei uns gibt es auch Eichen, mein Freund», sagte Lovernios, «Eichenhaine mit heiligen Brunnen, die von heiligen Quellen gespeist werden.
Und an jedem dieser heiligen Orte opfern wir einer bestimmten Gottheit. Sie heißt nicht Dina oder Diana, sondern Danu – mein eigener Stamm zum Beispiel, die Tuatha de Danaan, ist das Volk der Danu –, und es liegt zu nah beieinander, um ein Zufall zu sein. Danu ist die große Jungfrau, die ‹Mutter allen gefundenen Wassers›, daß heißt, aller Süßwasserquellen und Brunnen. Ihr Name bedeutet ‹Geschenk›, denn solches Wasser ist gleichbedeutend mit Leben. Und unsere Art, ihr zu huldigen, erinnert an die deines Vorfahren Jakob, nur daß wir unsere Schätze nicht unter einer Eiche vergraben, sondern sie in den Brunnen bei der Eiche werfen, wo sie in die wartenden Arme der Göttin fallen.»
«Aber kannst du dir wirklich vorstellen, daß die letzte Botschaft des Meisters – »
«…heidnisch war?» fiel ihm Lovernios ins Wort. «So würdest du es doch nennen, nicht wahr? Ich fürchte, keiner von euch hat ihn verstanden, nicht einmal du. Ich habt ihn als einen
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