Neville, Katherine - Der magische Zirkel
erinnern, das vor über einem Jahr geschah?»
Die Brüder kamen vom Hafen von Joppe, wo Jakobus eben mit dem Schiff von seiner Reise zu den Kelten im Westen Hispaniens zurückgekehrt war. Er war ein ganzes Jahr fort gewesen. Nun lag die Stadt hinter ihnen, und sie befanden sich auf der steinigen Landstraße.
«Als ich mit Josef Britannien besuchte», sagte Jakobus, «sagte er mir, seiner Meinung nach fehle ein wichtiger Teil aus der Geschichte über die letzten Tage des Meisters. Du weißt, der Meister hat immer gesagt: Seine ‹Geheimnisse› mit seinen treuen Jüngern zu teilen, das würde eines Tages sein Vermächtnis sein. Josef meinte, der Meister habe uns vielleicht tatsächlich diese Geheimnisse mitgeteilt, als er erkannte, daß er nur für kurze Zeit bei uns bleiben würde. Aber weil er in Gleichnissen redete, habe keiner von uns die Bedeutung hinter seinen Worten verstanden. Deshalb bin ich hierhergeeilt, um Josefs Brief zu überbringen, in dem er Miriam von Magdali bittet, dieser Sache nachzugehen. Und er hofft, daß wir – du, Simon Petrus und ich –, daß wir sie als die drei auserwählten Nachfolger des Meisters dabei unterstützen.»
Jakobus und sein jüngerer Bruder Johannes Zebedäus waren zusammen mit ihren Gesellen Simon Petrus und dessen Bruder Andreas die ersten Jünger, die der Meister für seine Mission gewonnen hatte. Als er sie an den Ufern des Sees Genezareth traf, sagte er, sie sollten ihre Fischernetze liegenlassen und ihm folgen; er würde sie lehren, «Menschenfischer» zu sein. So kam es, daß die Brüder Zebedäus als die ersten erwählten Jünger eine bevorzugte Behandlung erwarteten, die sie auch stets erhielten – ausgenommen in letzter Zeit. Dieses Jahr, dachte Johannes voller Gram, hatte sie alles gekostet. Sein älterer Bruder war zu lange fort gewesen.
«Kannst du mir erklären, was Miriam von Magdali damit zu tun hat?» fragte Jakobus. «Warum sollte sie der offizielle Bote sein?»
«Josef ist stets dafür eingetreten, daß sie der erste Apostel war. Sie war die erste, die den Meister nach seinem Tod gesehen hat, als er an jenem Morgen aus einem Grab in Josefs Garten Gethsemane auferstanden war», antwortete Jakobus. «Wenn Josef von Miriam spricht, nennt er sie immer noch den ‹ersten Boten›, den Apostel für die Apostel. Und ob wir nun glauben oder nicht, daß der Meister Miriam eine so große Ehre zuteil werden ließ, müssen wir, wenn wir ehrlich sind, anerkennen, daß so etwas durchaus seinem Charakter entsprochen hätte. Diese Ehre wäre nicht größer als jede andere, die ihr der Meister im Lauf seines Lebens erwiesen hat.»
«Ehren und Küsse!» sagte Johannes aufbrausend. «Alle wissen, daß ich der Lieblingsjünger des Meisters war. Er hat mich behandelt wie sein Kind und mich viel öfter umarmt als Miriam. Als er starb, hat er mir da nicht aufgetragen, wie ein Sohn für seine Mutter zu sorgen? Und er hat gesagt, du und ich würden aus seinem Kelch trinken, wenn das himmlische Königreich kommen würde – eine Ehre, die genauso groß ist wie jede, die er Miriam, erwiesen hat.»
«Ich fürchte diesen Kelch, Johannes», sagte Jakobus leise. «Vielleicht solltest du ihn auch fürchten.»
«Es hat sich alles verändert, Jakobus, seit du Judäa verlassen hast», sagte der Jüngere. «Das Triumvirat, von dem du gesprochen hast, gibt es nicht mehr. Petrus sagt, daß nur ein Fels ein Grundstein sein kann und daß er vom Meister dafür erwählt wurde. Es herrscht Zwietracht, Eifersucht und Unmut zwischen den Freunden. Wenn du in Jerusalem geblieben wärst, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.»
«Es tut mir leid, das zu hören», sagte Jakobus. «Aber ich bin überzeugt, daß sich die Dinge nicht so sehr verändert haben, daß nichts mehr zu retten wäre.» Er legte seinem jüngeren Bruder die Hand auf die Schulter, wie es der Meister oft getan hatte, und Johannes fühlte schmerzlich, wie sehr er die schlichte Art und die Stärke des Meisters vermißte.
«Du verstehst nicht, Jakobus», sagte Johannes. «Miriam von Magdali ist Petrus ein besonderer Dorn im Auge. Sie lebt seit Monaten völlig zurückgezogen bei ihrer Familie in Bethanien. Petrus verübelt ihr die besondere Nähe zum Meister mehr als mir. Wegen ihr hat er alles geändert. Jetzt predigen oder heilen Frauen nicht mehr. Sie müssen ihr Haar bedecken, weil angeblich solche Unbedecktheit und solche Freiheiten wie zu Lebzeiten des Meisters zu verführerisch sind und die Frauen zur Zügellosigkeit
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