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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel Kostenlos Bücher Online Lesen
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Tradition sind Wahrheit, Recht und Glaube eins. Die Priester sind auch die Gesetzgeber. Wenn einer ihrer Priester Recht spricht, steht er unter dem duru, einem Baum, den wir Eiche nennen. Deshalb nennen sie ihren Priester den Drui – oder in der Mehrzahl die Druid, und das bedeutet ‹Geber der Wahrheit›. Wie bei den alten Hebräern», fuhr der Meister in seiner Erzählung fort, «ist auch für diese Bewohner des Nordens dreizehn die heiligste Zahl, die Zahl der Monate in einem Jahr nach dem Mondkalender. Weil der dreizehnte Mond das Ende des Jahres anzeigt, bedeutet diese Zahl für uns Veränderung, einen neuen Zyklus, Wiedergeburt und Hoffnung. Die Zahl Dreizehn ist der Kern der Wahrheit in der Geschichte von Jakob, der mit dem Engel Gottes kämpfte und ‹Israel› wurde. Man vergißt gern, daß Jakob, unser Stammvater, nicht zwölf, sondern dreizehn Kinder hatte.»
    «Aber Meister!» rief Simon Petrus. «Das kann doch nicht stimmen! Ich gebe ja zu, daß ich über die Eichen-Männer und das, was sie glauben, nicht mitreden kann, denn ich weiß nichts von ihnen. Aber bei uns heißt es in der Thora, daß es zwölf Stämme Israels waren – nicht dreizehn. Das hat nie jemand angezweifelt!»
    «Petrus, Petrus – Gott hat dir Ohren gegeben. Du solltest es ihm vergelten und sie benützen!» sagte der Meister lachend und legte Petrus den Arm um die Schultern. Als Petrus den Kopf hängen ließ, fügte der Meister hinzu: «Ich habe nicht gesagt: dreizehn Stamme, sondern dreizehn Kinder. Hör die Geschichte mit neuen Ohren. Frag dich, warum diese Tatsache den Kern der Wahrheit darstellt, die ich gesucht habe.»
    Der Meister kam zu mir, die ich mit den anderen im Kreis auf der Wiese saß. Er legte die Hand auf mein Haar und lächelte auf mich nieder.
    «Eines Tages wird Miriam vielleicht die Antwort finden», sagte er zu Petrus. «Miriam war für mich immer mein dreizehnter Apostel. Aber eines Tages wird sie auch mein erster Apostel sein: dreizehn und eins, die Vollendung eines Zyklus. Alpha und Omega. Erster und Letzter.» Und nachträglich fügte er hinzu: «Jakobs vergessenes Kind hieß Dina. So wie ich es sehe, verkörpert Dina selbst den Kern der Wahrheit in der Geschichte. Ihr Name, wie der ihres Bruders Dan, bedeutet ‹Richter›.»
    Josef, Du weißt so gut wie ich, daß der Meister nie Gleichnisse oder falsche Behauptungen aufstellte, um uns zu verwirren oder auch nur zu necken. Hinter dieser Methode steckte ein Motiv. Er dachte, nur wenn wir nach Wahrheit suchen und selbst zu ihr gelangen, würden wir die Wahrheit, die wir finden, auch ganz verstehen, sie in uns aufnehmen und zu einem Teil von uns machen.
    An jenem Vormittag erklärte der Meister den Zusammenhang der Zahl Dreizehn mit dem hebräischen Mondkalender und dem Jahreswechsel. Aber warum hat er nicht auch gesagt, daß dem Namen Dina der römische Name Diana entspricht? Das muß er gewußt haben. Und warum hat er uns nichts von seinem Vorhaben gesagt, seine Mutter eines Tages in einem berühmten Eichenhain bei Ortygia unterzubringen? Daß ihr Haus neben einer Quelle gebaut werden soll, genau an der Stelle, wo die Mondgöttin Artemis geboren wurde, die auch Diana von Ephesus genannt wird, Schirmherrin der Quellen und Brunnen ist und deren Riten überall in der griechischen Welt in Eichenhainen gefeiert werden?
    Nein, es kann kein Zufall gewesen sein, daß dies die letzte Geschichte war, die der Meister uns erzählt hat – und dies, wie sich später herausstellte, am letzten Tag, an dem wir alle beisammen waren. Der Fehler liegt allein bei mir, weil ich nicht früher darauf gekommen bin.
    Josef, ich weiß, daß Dir diese Geschichte und die Berichte, die ich geschickt habe, viel zu denken geben werden. Du wirst sie verdaut haben, bis wir uns wiedersehen. Ich werde inzwischen versuchen, mehr über die privaten Gründe des Meisters zu erfahren – denn privater Natur waren sie, davon bin ich überzeugt –, die ihn bewegt haben, seine Mutter an die Heimstätte dieser berühmten ephesischen Göttin zu schicken. Vielleicht gelingt es uns beiden, das fehlende Glied in der Kette dieser scheinbar voneinander getrennten Ereignisse zu finden, die sich während der letzten Tage des Meisters zugetragen haben.
    Nun geh mit Gott, Josef, und ich sende Dir meine Augen, meine Ohren, mein Herz und meinen Segen – damit du sehen, hören, heben und glauben kannst, wie es sich der Meister für uns gewünscht hat.
    Miriam von Magdali
    Als Josef von dem Brief aufblickte,

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