Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Josef.
Lovernios ließ das Netz sinken und sah Josef grimmig an. «Wir müssen herausfinden, was das für Gegenstände waren, die deine Vorfahren unter den Wurzeln jener Eiche in Samaria vergraben haben, und wo sie heute sind – ob sie tatsächlich während der vergangenen zwei Jahrtausende unter der Erde blieben, was ich leider für unwahrscheinlich halte. Denn ich vermute, daß die Geschichte, die Esus von Nazareth erzählen wollte, nicht so einfach ist wie die Schändung von Dina und die Rache ihrer Brüder. Ich denke, daß sich der eigentliche Kern dieser Geschichte auf eine weitaus größere Verwandlung bezieht und daß die von Jakob vergrabenen Gegenstände der Schlüssel zu dem Geheimnis sein könnten.»
«Aber ich war es doch, der dir diese Dinge erzählt hat», sagte Josef. «Der Meister hat nicht davon gesprochen. Außerdem waren es nur Kleider und Ohrringe, persönliche Habe und die Haushaltsgötter der Diener, und sie wurden vor zweitausend Jahren vergraben. Wie könnten sie etwas mit Verwandlung zu tun haben oder gar die Taten des Meisters erklären?»
«Es ist deine Beschreibung, wo sie vergraben wurden; neben einem heiligen Brunnen und unter einer heiligen Eiche. Das läßt darauf schließen, daß es nicht nur persönliche Habe war, sondern daß es Talismane waren, magische Gegenstände mit dem Charisma jedes einzelnen Stammesmitglieds», sagte Lovernios. «Derjenige, der auserwählt ist, jenen schwierigeren Weg zu gehen, von dem ich vorhin sprach, muß zuerst im Besitz solcher Talismane sein. Sie müssen in ihrer gemeinsamen Kraft vereint sein, wenn er die alten Mysterien beschwört. Ich bin überzeugt, das war das Ziel eures Meisters. Und wenn er auserwählt war, diesen Weg zum Wohle eures Volkes zu gehen, muß er selbst in den Besitz der Talismane eurer Vorfahren gelangt sein. Aber ob er nun sein endliches Ziel, die Verwandlung, erreicht hat oder nicht – diese Gegenstände müssen der Erde schleunigst zurückgegeben werden, um die Götter versöhnlich zu stimmen.»
«Ich verstehe dich nicht», rief Josef. «Du meinst, der Meister hat Dinge ausgegraben, die vielleicht Tausende von Jahren in der Erde lagen oder vielleicht nie existierten, um für sich selbst eine geheimnisvolle Macht zu erlangen? Aber Lovernios, der Meister hat doch schon zu Lebzeiten Tote aufgeweckt, und nach seinem eigenen Tod ist er Miriam erschienen wie im wirklichen Leben. Welch größeren Kräfte könnte es geben als die, die er bereits besaß?»
Das Feuer war niedergebrannt. In stummer Übereinstimmung traten sie die Glut aus und kehrten zu Josefs Schiff zurück. Lovernios trug das Netz mit den Amphoren über der breiten Schulter. Unterwegs wandte er sich an Josef, der nur die Umrisse der kräftigen Gestalt seines Begleiters sehen konnte.
«Die Druiden glauben, daß jemand ein Gott sein muß, um ein neues Zeitalter hervorzubringen», sagte Lovernios leise.
SYRIEN, ANTIOCHIA
Herbst, A.D. 35
Die Zeit der Wahrheit
Bericht der Dritten Legion in Antiochia,
Untersuchung der Vorwürfe in Sachen:
Der Rat von Sichem, Samaria,
gegen Pontius Pilatus, Präfekt von Judäa
Vom Bürgerrat von Sichern wurde schriftliche Klage erhoben gegen Pontius Pilatus, den römischen Präfekten von Judäa. Klagegrund ist ein Befehl des Präfekten, demzufolge im vergangenen Monat einhundertzwanzig Samariter – unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder – ermordet wurden, die an einer religiösen Pilgerfahrt von über viertausend Menschen zu dem für die Hebräer heiligen Berg Garizim teilnahmen. Ferner wird beklagt, daß der Präfekt Pilatus anschließend die Folter und Hinrichtung einiger der bekanntesten Bürger Samarias befahl, die zuvor auf seine Anweisung hin dort festgenommen worden waren.
Samaria trennt die römische Provinz Judäa von der von Herodes Ant ipas regierten Tetrarchie Galiläa und hat als Zentralregion von Römisch-Palästina politische Bedeutung. Sichern, die wichtigste Stadt in Samaria, liegt zwischen zwei bedeutenden religiösen Stätten, dem Berg Ebal und dem Berg Garizim. Judäer und Samariter hassen sich von alters her. Die Samariter haben seit Jahrhunderten an ihrer eigenen Form der Religionsausübung festgehalten. Sie verehren die Taube und die heilige Eiche. Der Berg Garizim ist die heilige Stätte ihrer Sekte. Alle Hebräer, einschließlich der Judäer, sind überzeugt, daß der Berg Garizim in der Geschichte ihres Glaubens immense Bedeutung hat. Sie nennen ihn Tabbur Ha’ares, was soviel bedeutet wie der
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