Newtons Schatten
werden. Ja, es gab nicht wenige Gefangene, welche den Pranger mehr fürchteten als Geldstrafen und Haft.
Meine erster Impuls war es, sofort einen Arzt zu holen, damit mein Herr durch irgendeine schnell wirkende Kur in die Lage
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versetzt würde, vor den Lordrichtern zu erscheinen und sich aufs Vorteilhafteste zu präsentieren. Doch nach und nach wurde mir klar, dass das Hinzuziehen eines Arztes nur die im Ausland ohnehin schon kursierenden Gerüchte über Newtons Geisteszustand schüren würde. Wenn er einen Schlag erlitten hatte, dann erübrigte sich der Arzt ebenso wie die Vorladung der Lordrichter. Wenn es jedoch, wie ich hoffte, nur ein vorübergehender Zustand war, dann würde mein Herr es mir gewiss nicht danken, wenn ich einen Arzt hinzuzog. Newton konnte Ärzte, gelinde gesagt, nicht leiden und wenn er einmal krank war, was selten vorkam, zog er es vor, sich selbst zu behandeln. Außerdem wusste ich, dass er schon einmal einen Zusammenbruch erlitten und sich, wie er sagte, aus eigener Kraft davon erholt hatte, was mich ermutigte, meine Strategie für die richtige zu halten. Also holte ich Kissen und Decken aus dem Münzwarthaus und ging, nachdem ich es ihm so bequem wie möglich gemacht hatte, nachsehen, ob sein Kutscher noch draußen wartete.
Als ich Mister Woston hinterm Löwenturm fand, sprach ich ihn an.
«Mister Woston? Wie erschien Euch Doktor Newton, als Ihr ihn heute Morgen herbrachtet?»
«Er war ganz er selbst, Mister Ellis, wie immer.»
«Der Doktor hat eine Attacke erlitten», sagte ich. «Irgendeinen Anfall oder einen Schlag vielleicht. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, außer dass er nicht mehr er selbst ist, um Eure Worte zu gebrauchen. Und vielleicht wäre es das Beste, wenn Ihr Miss Barton holtet. Aber versucht, sie nicht unnötig aufzuregen. Ihr unterwegs die Sorge zu ersparen. Vielleicht könnt Ihr ja einfach sagen, dass ihr Onkel sie dringend in seiner Amtsstube im Tower zu sehen wünscht und sie alles Nähere dort erfahren wird.»
«Soll ich auch einen Arzt holen, Mister Ellis?»
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«Noch nicht, Mister Woston. Ich möchte, dass Miss Barton ihn zuvor sieht.»
Als Miss Barton ungefähr eine Stunde später in der Münze eintraf, begrüßte sie mich mit kühler Höflichkeit, doch als sie dann den Zustand ihres Onkels sah, wollte sie wissen, warum ich nicht sofort einen Arzt gerufen hätte.
«Miss Barton», sagte ic h, «wenn Ihr mir eine Erklärung gestattet, einen Arzt zu rufen hätte Gerüchte über Newtons Geisteszustand provoziert. Wenn er einen Schlag erlitten hat, ist es für den Arzt ebenso zu spät wie für die Lordrichter. Wenn sein Zustand aber nur vorübergehender Natur ist, wird er es uns nicht danken, wenn sich ein Arzt einmischt.»
Sie nickte. «Das ist wahr. Aber warum sprecht Ihr von den Lordrichtern? Hatte mein Onkel einen Termin bei ihnen?»
Ich zeigte ihr den Brief, welchen ich in Newtons Hand gefunden hatte, was in ihrem Busen eine hysterische Reaktion gegen mich auszulösen schien.
«Ihr gemeiner, niederträchtiger Schuft», sagte sie bitter. «Ich sehe da Eure atheistische Hand im Spiel, Mister Ellis.
Zweifellos habt Ihr meinen Onkel bei den Lordrichtern in Verruf gebracht, indem Ihr öffentlich sagtet, was Ihr mir unter vier Augen gesagt habt.»
«Ich versichere Euch, Miss Barton, nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Ganz gleich, was Ihr von mir denkt, ich verdanke dem Doktor doch alles und würde um nichts in der Welt jemals seinen Ruf schädigen. Doch selbst wenn es so wäre, dieser Disput hilft ihm bestimmt nicht.»
«Was schlagt Ihr vor, Sir?», fragte sie förmlich.
«Euer Onkel sprach davon, dass er schon einmal eine Art geistigen Zusammenbruch erlitten habe», sagte ich.
«Das ist richtig. Es hat ihn immer ungemein geärgert, dass Mister Huygens verbreitete, der Verstand meines Onkels sei für
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die Wissenschaft verloren. Er ist nämlich ein stolzer Mensch, der seine Angelegenheiten für sich behält.»
«Das ist er allerdings, Miss Barton. In einem Maß, wie ich es noch bei keinem Menschen erlebt habe.» Und etwas pointierter setzte ich hinzu: «Da ist so vieles an ihm, wozu er niemandem je Zugang gewährt, dass ich mich frage, wie wohl irgendjemand behaupten könnte, ihn zu kennen.»
«Ich kenne meinen Onkel, Sir.»
«Gut. Dann werdet Ihr Euch ja vielleicht auch erinnern, wie es damals war. Ob da irgendetwas unternommen wurde, um seine Genesung zu beschleunigen?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Nein? Dann
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