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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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selbst und ich hatte völlig vergessen, warum ich überhaupt in der Amtsstube übernachtet hatte, doch als ich kurz darauf zu Newtons Sessel am Kamin hinüberschaute, sah ich, dass er dort nicht mehr saß und im Aufspringen rief ich ängstlich Miss Bartons Namen.
    «Schon gut», sagte Newton, welcher jetzt am Fenster stand,
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    «Beruhigt Euch. Ich glaube, ich bin gänzlich wiederhergestellt.
    Ich habe den Sonnenaufgang beobachtet. Das kann ich Euch nur empfehlen. Es ist ein höchst erhellendes Schauspiel.»
    Miss Barton lächelte mich freudig an und für einen Moment schien alles, was mir lieb und teuer war, wiederhergestellt, wenn uns auch Newton immer noch irgendwie fern dünkte. Ich glaube, Miss Barton küsste sogar zuerst ihn und dann mich auf die Wange und es war, als hätte sie aus jenem Fluss im Hades getrunken, welcher einen die Vergangenheit vergessen macht, sodass wir beide neben Newton standen, über seine Genesung staunten, übers ganze Gesicht strahlten und einfach froh waren, beisammen zu sein.
    «O Sir», rief sie aus und klang jetzt schon ein klein wenig ärgerlich. «Was war denn nur los? Ihr habt uns ja so erschreckt.
    Wir waren uns sicher, Ihr hättet den Verstand verloren.»
    «Es tut mir Leid, wenn ich Euch beunruhigt habe», flüsterte er.
    «Es gibt Zeiten, da mich meine Gedanken so gefangen nehmen, dass es gewisse äußere Auswirkungen hat, welche den Anschein erwecken, als hätte mich ein Schlag von der Hand des Allmächtigen getroffen. Die Ursache ist auch mir ein Rätsel, daher kann ich nichts dafür, wenn ich Euch keine andere Erklärung zu geben vermag, als dass diese seltsamen Ausflüge aus meinem physischen Leib, welche mir, seid versichert, nichts Neues sind, für gewöhnlich eine große Klarheit des Geistes nach sich ziehen.»
    Doch als ich sein Gesicht genauer musterte, sah ich, dass er blass und strapaziert wirkte, als läge noch immer eine schwere Last auf seiner Seele.
    «Aber seid Ihr ganz sicher, dass Ihr wiederhergestellt seid, Sir?», fragte Miss Barton. «Sollten wir nicht einen Arzt rufen, um sicherzustellen, dass es Euch wirklich so gut geht, wie Ihr meint?»
    «Das stimmt, Sir», sagte ich. «Ihr seht blass aus.»
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    «Vielleicht solltet Ihr etwas essen», schlug Miss Barton vor.
    «Und ein wenig Kaffee trinken.»
    «Liebes Kind, ich bin wieder gänzlich genesen», insistierte Newton. «Du tatest gut daran, auf Mister Ellis zu hören.»
    «Ihr habt unsere Unterhaltung mitbekommen?», fragte ich.
    «O ja, ich habe alles gesehen und gehört, was in diesem Raum vor sich ging.»
    «Alles?», fragte Miss Barton und an ihrem Erröten merkte ich, dass sie an die Sache mit dem Nachtgeschirr dachte.
    «Alles», bestätigte Newton und vertrieb damit endgültig die letzte Spur ihres Lächelns.
    «Aber Sir», wechselte ich aus Erbarmen mit ihr das Thema.
    «Vielleicht seid Ihr ja doch nicht so gänzlich genesen, wie Ihr glaubt. Denn es war nicht heute Morge n, dass Miss Barton von Ärzten sprach, sondern gestern. Es ist fast vierundzwanzig Stunden her, dass ich Euch in diesem Stuhl sitzend fand.»
    «So lange?», sagte Newton schockiert und schloss kurz die Augen.
    «Ja, Sir.»
    «Ich habe über diese Geheimschrift nachgedacht», sagte er abwesend.
    «Ihr müsst heute Morgen vor den Lordrichtern erscheinen», sagte ich.
    Newton schüttelte den Kopf. «Sprecht vorerst nicht davon.»
    «Aber was soll ich denn tun, Sir?»
    «Da gibt es nichts zu tun.»
    «Miss Barton hat Recht», sagte ich. «Wir sollten alle zuerst einmal frühstücken. Und ich für mein Teil bin ausnehmend hungrig.»
    So viel wie an jenem Morgen habe ich nie wieder gegessen.
    Newton trank ein wenig Kaffee und aß etwas trocken Brot,
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    schien aber keinen rechten Appetit zu haben. Zweifellos beschäftigte ihn der Termin bei den Lordrichtern, welcher jetzt unmittelbar bevorstand. Und als wir nach dem Frühstück Miss Barton in die Jermyn Street zurückgebracht hatten, erklärte er zu meiner Verblüffung: «Ich bin der wohl begründeten Ansicht, dass dieses Mädchen verliebt ist.»
    «Wie kommt Ihr darauf, Sir?», fragte ich unbeteiligt, obwohl ich spürte, wie ich errötete.
    «Ich lebe mit ihr zusammen, Ellis. Meint Ihr, meine eigene Nichte sei für mich unsichtbar? Ich lese vielleicht nicht die ganze Nacht Sonette, aber ich glaube doch, die eigentümlichen Manifestationen der Liebe erkennen zu können. Und mehr noch, ich bin überzeugt, dass ich weiß, wer der Glückliche ist.» Und dabei lächelte er

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