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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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dem, was Mrs. Berningham am darauf folgenden Tag erwartete.
    Sie wurde aus dem Tor von Newgate geführt und nachdem sie vom Glöckner von St. Sepulchre einen Becher Branntwein erhalten hatte, durch eine riesige Menschenmenge, die sich
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    versammelt hatte, zu einem mitten auf der Straße aufgestellten Pfahl gebracht. Dort musste sie auf einem Schemel stehen, während man ihr eine Schlinge um den Hals legte und den Strick an einem Eisenring am oberen Ende des Pfahls festband.
    Der Schemel wurde weggetreten und während sie noch am Leben war, wurden zwei Fuhren Reisigbündel um sie herum aufgeschic htet und angezündet. Und als die Flammen sie verzehrt hatten, belustigte sich die Menge damit, ihre Asche mit Fußtritten durch die Gegend zu schleudern. Newton und ich wohnten ihrer Hinrichtung bei, obwohl ich finde, dass es etwas Unmenschliches hat, eine Frau zu verbrennen, da das schwächere Geschlecht doch leichter irrt und daher mehr Anrecht auf Milde hat. Eine Frau bleibt eine Frau, so tief sie auch gesunken sein mag.
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    FÜNFTES KAPITEL

    JESUS SPRACH ZU IHNEN: «WER OHREN HAT ZU
    HÖREN, DER HÖRE. IM INNEREN DES AUS DEM LICHT
    STAMMENDEN MENSCHEN LEUCHTET EIN LICHT UND
    ES ERLEUCHTET DIE GANZE WELT. WENN DIESES
    LICHT NICHT LEUCHTET, HERRSCHT FINSTERNIS.»
    Thomas-Evangelium, Vers 24

    Newton hatte lediglich die beiden Tower-Morde aufgeklärt, welche St. Leger Scroope und sein Diener und Komplize Robles verübt hatten. Das Rätsel der anderen beiden Morde und des Geheimnisses, das sie hatten schützen sollen, blieb noch zu lösen. Jetzt aber gilt es erst einmal zu erklären, was geschah, nachdem Scroopes Haus abgebrannt war und wie Newton in die für seine Person und seinen Ruf bedrohlichste Situation seines Lebens geriet. An jener Londoner Universität, die sich «das Leben» nennt, geht es nämlich weit härter zu als in Cambridge.
    Am Tag nach Mrs. Berninghams Hinrichtung sah ich, als ich in die Amtsstube kam, Newton finster brütend in seinem Sessel am Feuer sitzen. Dass er auf meinen Gruß nicht reagierte, war noch nichts Außergewöhnliches, ich war ja sein grüblerisches und zuweilen äußerst drückendes Schweigen längst gewohnt, aber dass er Melchiors schamloses Buhlen um seine Aufmerksamkeit ignorierte, war in der Tat merkwürdig und nach und nach wurde ich gewahr, dass er dasaß wie Atlas, der von den Göttern dazu verurteilt war, die Säulen des Himmels auf seinen Schultern zu trage n. Nachdem ich ihn, Herakles gleich, mehrfach angesprochen und sogar seinen Arm ergriffen hatte, es kam selten vor, dass ich ihn berührte, da er jeden physischen Kontakt scheute, erkannte ich, dass das Ganze wohl mit einem Blatt
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    Papier zu tun haben musste, welches seine Faust umklammerte.
    Zuerst dachte ich, das Papier hätte etwas mit der Geheimschrift zu tun, mit der er sich immer noch abplagte. Hatte ihn Doktor Wallis nicht davor gewarnt, sich bei den Enträtselungsversuchen das Gehirn zu sehr zu zermartern? Erst als ich, bei näherem Hinsehen, auf seinem Beinkleid die Bruchstücke eines amtlichen Siegels entdeckte, wurde mir klar, dass dieses Papier ein amtliches Schreiben war. Nachdem ich meinen Herrn danach gefragt und wieder keinerlei Reaktion geerntet hatte, nicht einmal einen scharfen Blick, um mich in meine Schranken zu weisen, nahm ich mir die Freiheit, den Brief seinem Klammergriff zu entwinden und zu überfliegen.
    Was da stand, war höchst bestürzend und plötzlich begriff ich, warum Newton wie jemand wirkte, der eine Schädigung des Gehirns, vielleicht sogar eine Art Schlagfluss erlitten hatte.
    Denn der Brief stammte von den Lordrichtern und lud Newton für den nächsten Morgen zu einer informellen, nicht protokollierten Privatsitzung, damit er dort zu eidlich erklärten Anschuldigungen Stellung nehme, er sei keine geeignete Person für ein Staatsamt, da er antitrinitarische, sozinianische oder unitarische und somit häretische Überzeugungen hege, welche gegen den König und die anglikanische Kirche gerichtet seien.
    Das war in der Tat eine ernste Sache, denn wenn ich auch nicht glaubte, dass die Lordrichter Newton zum Tode verurteilen würden, konnten sie ihn doch ohne weiteres an den Pranger stellen lassen, was auf dasselbe herauslaufen würde, da er, wie ich scho n sagte, wegen seines gewissenhaften Vorgehens gegen Falschmünzer in der Londoner Bevölkerung nicht beliebt war und viele Verurteilte es nicht überlebten, am Pranger vom Pöbel mit Ziegelbrocken und Steinen beworfen zu

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