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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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würde ich meinen, dass wir dem einfach seinen Lauf lassen sollten. Und dass sein brillanter Geist sich selbst von dieser Unpässlichkeit kurieren wird. Bis dahin, denke ich, sollten wir dafür sorgen, dass er es so warm und bequem wie möglich hat.»
    Allmählich schien ihr einzuleuchten, was ich sagte und sie begnügte sich damit, die Decken und Kissen, mit denen ich ihren Onkel umgeben hatte, neu zu arrangieren.
    Miss Barton war schon zuvor im Tower gewesen, um die Münze, die Waffenkammern und die Königliche Menagerie zu besichtigen, aber jetzt war sie erstmals in meiner Gegenwart hier und ohne viel zu sagen, da wir beide nicht genau wussten, wie viel Newton hören konnte, saßen wir so steif wie zwei Statuen da, beobachteten ihn und warteten auf irgendeine Veränderung.
    Es war eine äußerst aufreibende Situation: Newton beinahe wie ein Toter und doch nicht tot, vielleicht in der Lage, alles zu sehen und zu hören, aber unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Und wir beide mit vollem Herzen und bittersüßen Erinnerungen.
    «Was könnte ihm passieren?», fragte sie. «Wenn ihn die Lordrichter für einen Häretiker hielten?»
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    «Er würde, fürchte ich, all seine Amtswürden verlieren», sagte ich. «Er könnte vielleicht sogar wegen Blasphemie angeklagt, an den Pranger gestellt und dann eingesperrt werden.»
    «Den Pranger würde er nicht überleben», wisperte Miss Barton.
    «Nein», sagte ich. «Das befürchte ich auch. Wenn er sich wirksam gegen diese Anschuldigungen zur Wehr setzen soll, muss er alle Sinne beisammenhaben.»
    «Wir müssen für seine Genesung beten», sagte sie schließlich nachdrücklich.
    «Gewiss würden Eure Gebete schon helfen», sagte ich lahm.
    Worauf sie vom Stuhl aufstand und niederkniete.
    «Wollt Ihr nicht mit mir beten?», fragte sie. «Um seinetwillen?»
    «Doch», sagte ich, obwohl mir gar nicht nach Beten war. Ich kniete mich neben sie, faltete die Hände und schloss die Augen, während sie über eine Viertelstunde vor sich hin murmelte wie die frömmste Person auf Erden. Ich meinerseits schwieg und hoffte, sie würde davon ausgehen, dass ich im Herzen mitbetete.
    Im Lauf des Vormittags entspannten wir uns beide ein wenig, sodass wir Newton zeitweilig schon fast nicht mehr wahrnahmen. Um die Mittagessenszeit war es, als sei er gar nicht da und als Miss Bartons Magen laut knurrte, erbot ich mich lächelnd, uns etwas Essbares aus dem Stone Kitchen zu holen. Als sie dem so eifrig zustimmte, dass ich merkte, wie hungrig und durstig sie in Wirklichkeit war, ging ich zum Wirtshaus und kehrte rasch mit dem Essen wieder zurück. Zu rasch leider, denn ich wurde Zeuge, wie sie etwas auf dem Topf verrichtete und ihr Erröten erfüllte mich mit Scham und Mitleid, vom Ärger über mich selbst ganz zu schweigen. Und als ich nach einer taktvollen Zeitspanne in die Amtsstube zurückkehrte, war unsere Konversation aufgrund der beiderseitigen Verlegenheit wieder steif und förmlich.
    Aber endlich gab sie zu, dass ich, ihren Onkel betreffend, wohl
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    doch das Richtige getan hatte.
    «Ich glaube, Ihr habt recht gehandelt, Mister Ellis», sagte sie,
    «keinen Arzt zu rufen.»
    «Ich bin sehr froh, dass Ihr das sagt, Miss Barton, denn diese Frage hat mich den ganzen Vormittag bedrückt.»
    «Ich war heute Morgen ungerecht zu Euch.»
    «Bitte, sprecht nicht mehr davon, Miss Barton. Das ist längst vergessen.»
    Der Tag ging in den Abend über und wir setzten unsere Wache fort, als sei es eine Art religiöser Akt, Newton zu beobachten.
    Ich machte ein Feuer, welches den Raum erwärmte und erbot mich, Miss Barton ein Umschlagtuch zu holen, was sie ablehnte und als das Dunkel schließlich den letzten Schimmer Tageslicht vertrieb, entzündete ic h ein paar Kerzen und stellte eine nah an Newtons Gesicht, damit wir jede Veränderung seiner Physiognomie sofort bemerken würden. Als ich die Kerze an seine Augen hob, sah ich deutlich, wie sich das Schwarze im Zentrum seiner Iris merklich bewegte, was mich zu der Vermutung brachte, dass er weniger hirnkrank als vielmehr auf den Zustand eines lebenden Leichnams reduziert war. Ich ermunterte Miss Barton, dieses Experiment zu wiederholen, um sich zu überzeugen, dass vielleicht doch alles wieder gut werden würde.
    Nach und nach übermannte uns beide der Schlaf und es tagte schon, als mich Melchior weckte, indem er auf meinen Schoß sprang. Einen Moment lang verhinderte die Nacken- und Gliedersteife jeden Gedanken an etwas anderes als mich

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