Newtons Schatten
beides.»
Wir gingen zu Fuß zum Newgate-Gefängnis und unterwegs beklagte sich Newton über die allgegenwärtigen Bauarbeiten in der City. Und er erklärte, wenn man der Stadt immer neue Stadtteile hinzufüge, gebe es bald gar keine Landschaft mehr, nur noch London, welches im Begriff sei, sich mit gewaltiger Geschwindigkeit zur größten Metropole aller Zeiten auszuwachsen, zum Schrecken derer, die dort lebten und den ganzen Dreck und die allgemeine Gesetzlosigkeit ertragen müssten. Mir war klar, dass er die Stadt nicht sonderlich mochte und obwohl er mir erzählt hatte, er sei Cambridge leid geworden, hatte ich doch oft das Gefühl, dass er sich nach der Ruhe und dem Frieden der kleinen Universitätsstadt zurücksehnte.
Im Whit erwarteten uns schlechte Nachrichten, denn John Berningham, der die Goldguineen gefälscht hatte, war so krank am Magen, dass er mit dem Tod rang. In Newgate saßen so viele Gefangene, die auf ihren Prozess oder ihre Bestrafung warteten, dass es ein Leichtes war, sich eine Krankheit zuzuziehen und daran zu sterben, da kein Arzt einen Fuß in dieses Gemäuer setzen wollte. Doch Berninghams Krankheit war so heftiger und konvulsivischer Art, dass mein Herr argwöhnte, er sei vergiftet worden. Und tatsächlich erklärte der Wärter, welcher für die Abteilung zuständig war, wo der arme Berningham eingesperrt war, dieser habe sich kurz nach einem Besuch seiner Frau am Vorabend zu erbrechen begonnen.
«Welch ein Zufall», sagte Newton, der gerade den Inhalt von Berninghams Nachtgeschirr musterte, als sei dort der Beweis zu finden. «Möglich, dass sie ihn vergiftet hat. Aber der Beweis dürfte rasch zu erbringen sein, jedenfalls für unseren eigenen
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Gebrauch.»
«Wie denn?», fragte ich und schaute jetzt ebenfalls in den Kübel.
«Wie? Ganz einfach. Wenn Mrs. Berningham ihre Wohnung in der Milk Street fluchtartig verlassen hat, würde ich daraus schließen, dass sie ein schlechteres Gewissen hat als einstens Messalina und dass dieser arme Kerl tatsächlich vergiftet wurde.»
«Ich kann nicht glauben, dass die Lady so etwas tun würde», protestierte ich.
«Dann werden wir bald wissen, wer von uns mehr von Frauen versteht», sagte Newton und wandte sich zum Gehen.
«Aber können wir denn gar nichts für den armen Berningham tun?», fragte ich und blieb zögernd an der dreckigen Pritsche des Burschen stehen.
Newton grunzte und dachte kurz nach. Dann zog er einen Schilling aus der Tasche und winkte ein Mädchen heran.
«Wie heißt du, Mädel?»
«Sally», sagte das Mädchen.
Newton gab ihr den Schilling. «Du kannst dir noch einen Schilling verdienen, indem du diesen Mann genauso versorgst, wie ich es dir sage.» Zu meinem Erstaunen bückte sich Newton zum Kamin hinab und entnahm ihm ein Stück kalter Holzkohle, welche er in pillengroße Bröckchen brach. «Ich will, dass du ihn dazu bringst, so viele Holzkohlestückchen zu schlucken, wie er irgend hinunterbringt. Wie es in den Psalmen Davids heißt:
‹Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Weinen.› Er muss so viel davon essen, wie er nur kann, bis er entweder stirbt oder die Krämpfe aufhören. Ist das klar?»
Das Mädchen nickte stumm, während Berningham abermals ein so heftiger Würgeanfall überkam, dass ich dachte, der Magen würde ihm aus dem Mund fa llen.
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«Höchstwahrscheinlich ist es schon zu spät», bemerkte Newton kühl. «Aber ich habe gelesen, dass Holzkohle einige pflanzliche Gifte absorbiert. Ich glaube, dass es ein pflanzliches Gift war, weil da kein Blut in seinem Harn ist, was auf Substanzen wie Quecksilber hinwiese. Sonst würde ich raten, ihm ausschließlich Eiweiß zu verabreichen.»
Newton nickte, als hätte er sich eben wieder an eine nützliche Information erinnert, welche ihm gänzlich entfallen gewesen war. Das war typisch für ihn. Ich hatte immer das Gefühl, dass sein Geist so weitläufig war wie ein riesiger Landsitz, mit unzähligen Räumen, in denen Dinge lagerten, die er nur selten hervorholte, sodass er manchmal selbst überrascht schien, was er alles an Wissen besaß. Und das sprach ich jetzt aus, während wir die Cheapside in Richtung Milk Street entlanggingen.
«Ich für mein Teil», erwiderte er, «habe das Gefühl, das Wichtigste, das ich gelernt habe, ist, wie wenig ich weiß. Und manchmal komme ich mir wie ein kleiner Junge vor, der nichts weiter getan hat, als am Strand zu spielen und sich damit zu vergnügen, einen noch glatteren Kiesel oder eine
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