Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
seiner verräterischen Sippschaft ebenfalls des Verrätertums verdächtigt wurde.
    Newton hingegen begegnete ihm durchaus mit Sympathie und Vertrauen und erwies ihm jenes Maß an Respekt, welches jedem Menschen gebührt, der lange Jahre im Staatsdienst gestanden hat. Roettier war ein ruhiger und bedächtiger Mensch, aber jetzt bemerkten wir sofort, dass er höchst aufgewühlt war.
    «O Sir!», rief er aus. «Doktor Newton. Mister Ellis. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Ein Mord, Sir. Ein entsetzlicher, grausiger Mord. In der Münze, Sir. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein Toter, Sir.» Roettier ließ sich auf einen Stuhl fallen und zog sich eine uralt aussehende Perücke vom Kopf. «Tot, kalt und tot. Und zudem aufs Grässlichste verstümmelt, aber es ist Daniel Mercer, da bin ich mir ganz sicher. Ein Anblick, Sir, wie er mir noch nie begegnet ist. Wer tut denn so etwas? Wer, Sir? Das ist doch nicht mehr menschlich.»
    «Beruhigt Euch, Mister Roettier», sagte Doktor Newton. «Atmet erst einmal tief durch, um Eurem Blut etwas Luft zuzuführen, Sir.»
    Der alte Roettier nickte, tat, wie ihm geheißen, setzte sich, nachdem er tief Luft geholt hatte, die Perücke so wieder auf, dass sie auf seinem Kopf saß wie ein Sattel auf einer Sau und fasste sich so weit, dass er uns erklären konnte, Mercers
    -155-

    Leichnam liege in der Münze, am Fuß der Sally-Port-Treppe.
    Newton nahm ge lassen Hut und Umhang und entzündete die Kerze einer Sturmlaterne. «Wem habt Ihr sonst noch davon erzählt, Mister Roettier?»
    «Niemandem, Sir. Ich bin direkt hierher gekommen. Ich war auf meinem Abendspaziergang durch den Tower, Sir. Ich schlafe derzeit nic ht so gut. Und ich habe festgestellt, dass mir ein wenig Nachtluft hilft, zur Ruhe zu kommen.»
    «Dann heißt die Parole Schweigen, Mister Roettier. Ihr dürft keinem Menschen sagen, was Ihr gesehen habt. Vorerst jedenfalls. Ich fürchte, diese Nachricht wird die Münzerneuerung erheblich aus dem Takt bringen. Und wir müssen versuchen, dieses Geschehnis der Ordnance so lange wie möglich vorzuenthalten, damit sie nicht auf die Idee kommen, sich einzumischen. Auf, Ellis! Rührt Euch. Es gibt Arbeit für uns.»
    Wir verließen die Amtsstube und gingen die Mint Street hinauf, in Richtung meines Hauses, wobei wir uns gegen einen kalten Wind stemmen mussten, welcher im Gesicht brannte wie eine frische Rasur. Zwischen meinem Garten und einem Nebengebäude, in dem Newton einen
    Teil seiner
    Laborgerätschaften aufbewahrte, führte die Sally-Port-Treppe von der Münze auf die innere Befestigungsmauer und den Brick Tower, wo jetzt der Generalfeldzeugmeister wohnte.
    Der alte Roettier hatte nicht übertrieben. Im Lichtkegel unserer Sturmlaternen bot sich meinem Herrn und mir ein Anblick dar, welchen allenfalls Luzifer selbst genossen hätte. Am Fuß der Treppe, sodass es aussah, als sei er im Dunkeln ausgeglitten und gestürzt, lag Daniel Mercer. Nur dass sein Kopf säuberlich vom Rumpf getrennt war und auf einer der Treppenstufen stand. Die Augen aber waren beide ausgestochen und lagen ausgerechnet auf einer Pfauenfeder, welche wiederum neben einer Flöte lag.
    Und an der Wand standen in Kreideschrift die Buchstaben
    -156-

    updrtbugpiahbvhjyjfnhzjt

    Newtons Gesicht leuchtete im Laternenschein, als sei es aus Gold und seine Augen funkelten wie zwei Edelsteine, was mir sagte, dass ihn die grässliche Szene dort vor uns keineswegs mit Ekel, sondern vielmehr mit freudiger Erregung erfüllte. Und kaum dass er Mercers Leichnam in Augenschein genommen hatte, murmelte er «Mercurius», was ich dahin gehend deutete, dass ihm die Bedeutung der Feder und der Flöte bereits klar war.
    «Geht in Euer Haus», befahl er mir, «und holt Feder und Papier.
    Und bringt auch noch eine Laterne mit.»
    Zitternd, da der Mord so nah bei meinem Haus geschehen war, was mir Angst einflößte, tat ich, wie mir geheißen. Als ich zurückkam, bat mich Newton, sorgsam abzuschreiben, was da in Kreideschrift an der Wand stand und ich kopierte es, als sei es ein wichtiges Aussageprotokoll und nicht die sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben, für die ich es hielt.
    Unterdes stieg Newton die Treppe hinauf und wanderte zwischen Brick Tower und Jewel Tower hin und her und als ich mit dem Abschreiben fertig war, stieg ich zu ihm auf die Mauer empor. Ich sah, dass er mit seinen beiden Laternen auf dem Boden herumleuchtete und fragte ihn, was er suche.
    «Eine große Blutlache», sagte er. «Denn es ist unmöglich,

Weitere Kostenlose Bücher