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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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ein solches Geheimnis nicht ein Grund zum Töten?»
    Newton sagte nichts.
    «Ein Schatz im Tower. Ja, wahrhaftig. Ein starkes Motiv für einen Mord.»
    «Ihr kennt doch meine Philosophie, Ellis», sagte er. «Wir müssen Beobachtungen haben, ehe wir irgendwelche Hypothesen aufstellen können. Bis dahin wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr Eure müßigen Spekulationen für Euch behieltet.»
    Als wir wieder in den Tower gelangten, erklärte Newton, er wolle etwas aus meinem Haus holen, also begleitete ich ihn hin, um ihm selbst aufzuschließen, weil ich mir dies seit Mister Kennedys Ermordung zur Gewohnheit gemacht hatte. In meinem Haus nahm Newton sein Spiegelteleskop aus dem Holzkasten, welcher auch sein Mikroskop beherbergte und stellte es auf den Tisch. Das Fernrohr selbst war viel kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte, nämlich nicht länger als sechs Zoll und auf einer kleinen Kugel gelagert, sodass es aussah wie eine Miniaturkanone, um die Mauern einer Spielzeugburg zu beschießen.
    «Mir ist danach, den Ausblick vom Nordostturm des White Tower zu studieren», erklärte er und nahm das Fernrohr mit nach draußen.
    Wir betraten den White Tower und stiegen über die Haupttreppe in den dritten Stock hinauf, wo wir eine Laterne entzündeten und dann eine schmale Steintreppe auf den Nordostturm nahmen. Newton stellte sein Teleskop auf einem Tisch am Fenster auf justierte das Rohr auf seinem Sockel und spähte dann dergestalt in ein kleines Guckloch am oberen Ende, dass er das Rohr hinunterzuschauen schien, zu dem blanken Spiegel auf dessen Grund. Und während er beobachtete, was auch immer da zu beobachten sein mochte, wanderte ich in der Turmstube umher, wie es die Gefangene n getan haben mochten.
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    Ich muss gestehen, dass meine Gedanken sich nicht um blutigen Mord und auch nicht um den Templerschatz drehten, sondern um Miss Barton, denn es war mehrere Tage her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte und hier oben im Nordostturm des White Tower zu sein stieß mich nur darauf, dass ich von ihr getrennt war und dass ich, wenn ich von ihr getrennt war, nicht froh sein konnte, ehe ich sie nicht wiedersah. Jede Stunde, die ich Miss Barton nicht sah, gab mir das Gefühl zu sterben, aber in Wahrheit war mir im Tower der Gedanke an den Tod nie fern, denn es gab hier kaum einen Weg, einen Mauerabschnitt, einen Festungsteil oder Turm, der keine Geschichte von grausamem Morden und blutiger Exekution zu erzählen gehabt hätte und so versuchte ich, mir Miss Bartons Bild vor Augen zu halten, wie ein gefolterter Jesuitenpriester wohl das Bild der Jungfrau Maria heraufbeschworen hätte, um die Qual zu lindern.
    «Wonach haltet Ihr Ausschau?», fragte ich Newton schließlich.
    «Orion», antwortete er knapp.
    «Hat das etwas mit dem Schatz zu tun?»
    «Es hat etwas mit dem zu tun, was mir Mister Pepys erzählt hat, aber das ist etwas völlig anderes.»
    «Nämlich?»
    Aber er antwortete nicht und so ging ich für eine Weile hinunter in den zweiten Stock, in die St.-John-Kapelle, wo ich mir ein wenig Zerstreuung davon erhoffte, es den Schatzjägern Mister Pepys und Mister Barkstead nachzutun und einen Blick in die Regale des Staatsarchivs zu werfen.
    Zu dieser späten Stunde war der Archivar nirgends auffindbar und so wanderte ich zwischen den Regalen umher, welche hinter den schlichten Steinsäulen der Seitengänge angeordnet waren.
    Dort lagerten Bücher und Dokumente, die ich von jetzt an gründlich zu studieren gedachte, sooft ich Zeit dazu hätte. Unter der Empore stand ein mächtiger Refektoriumstisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Ich blätterte ziellos darin herum und
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    entdeckte zu meinem Erstaunen ein Exlibris, dem zufolge das Buch aus der Bibliothek Sir Walter Raleighs stammte. Das Buch selbst, welches ich nur deswegen näher betrachtete, weil es so überaus prachtvoll gebunden war, bestürzte mich sehr, denn es enthielt eine Reihe Illustrationen, die mir teilweise so obszön erschienen, dass ich mich wunderte, was es in einer Kapelle zu suchen hatte. Auf einem Bild säugte eine Frau eine Kröte an ihrer bloßen Brust, während auf einem anderen ein nacktes Mädchen hinter einem Ritter in voller Rüstung stand und ihn drängte, ein Feuer zu bekämpfen. Ein drittes Bild zeigte einen nackten Mann, der mit einer Frau kopulierte. Ich war eher abgestoßen als fasziniert, denn an diesen Bildern war etwas so Teuflisches und Sündhaftes, dass ich mich wunderte, wie dieses Buch einem Mann wie Sir Walter gehört

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