Newtons Schatten
Hängen zu sprechen wusste und ich habe mich seither oft
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gefragt, ob er nicht auf eine morbide Art von Galgen fasziniert war. Ich für mein Teil finde Erhängen ein äußerst unerfreuliches Schauspiel und sagte das Newton auch.
«Alle Ärzte, mit denen ich gesprochen habe», sagte er,
«versichern, dass das Erhängen völlig schmerzlos ist, da die Blutzufuhr zum Gehirn unterbunden wird und damit jedes Empfinden endet.»
«Ich habe noch niemanden lächelnden Gesichts am Strang baumeln sehen.»
«Wie?», rief Newton aus und hörte jetzt auf, sich für Mornays Hals zu interessieren, um sich vielmehr dessen Händen zuzuwenden und sie so eingehend zu mustern, als könne er daraus wie ein Chiromant das Schicksal des armen Teufels ablesen. «Ihr meint, man sollte Schurken, welche den Strang verdient haben, laufen lassen?»
«Ich glaube, dass doch zwischen einem frechen Spottlied und einem Kapitalverbrechen ein großer Unterschied besteht.»
«Oh, Ihr hättet einen feinen Advokaten abgegeben», spottete Newton. Dann hob er Mornays eine Hand hoch und forderte mich auf, die Finger zu betrachten. «Seht Euch die Fingernägel an», sagte er. «Eingerissen und blutig. Als hätte er gegen den Strick angekämpft. Ein wahrer Selbstmörder würde das Vehikel seines Endes doch mit mehr Gleichmut hinnehmen. Es könnte sein, dass der Mörder des Majors die Spuren seiner Tat im Gesicht trägt. Oder auch an den Händen.»
Newton stemmte die Kiefer des Toten auseinander, schob die Zunge beiseite und untersuchte die Mundhöhle. Als er dort nichts fand, begann er die Taschen des Toten zu inspizieren.
«Ich bedaure, dass ich dieses Geschehnis nicht vorhergesehen habe», gestand Newton. «Es ist meine Schuld. Ich muss gestehen, ich dachte nicht, dass sie ihren eigenen Bundesgenossen umbringen würden. Mein Trost ist nur, dass ich ihm, indem ich beweise, dass es ein Mord und kein Selbstmord
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ist, ein unehrenhaftes Begräbnis erspare. Aber täusche ich mich, oder hat er Euch letzte Nacht zu töten versucht? Wieso sollte er Euch Leid tun?»
«Mir tut jeder Leid, den ein solches Schicksal ereilt», sagte ich.
Newton hielt inne. «Ach, was haben wir denn hier?» Seine langen, schmalen Hände förderten einen Brief zutage, welchen er auseinander faltete.
«Das ist doch etwas», sagte er, hocherfreut über diese Entdeckung. «Denn das hier ist dieselbe Chiffre wie bei den bisherigen Botschaften.»
Er zeigte mir den Brief, der so aussah:
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«Ausgezeichnet», sagte er und steckte den Brief ein. «Unsere Materialsammlung wächst. Jetzt werden wir vielleicht endlich vorankommen.»
«Hoffentlich, bei drei ermordeten Männern.»
«Vier», sagte Newton. «Ihr habt die Angewohnheit, George Macey zu vergessen.»
«Ich habe ihn nicht vergessen», sagte ich. «Wie könnte ich, wo die Umstände seines Todes doch so eindrücklich waren? Aber auf Eure eigene Anweisung hin habe ich ihn aus meinem Kopf verbannt. Jedenfalls aus dem Vordergrund meines Kopfes. Und doch denke ich manchmal, dass sein Tod gerade wegen seiner Einzigartigkeit kaum etwas mit diesen anderen Morden zu tun
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haben kann.»
Newton grunzte nur und machte sich, offenbar ganz mit dem Tod des armen Majors beschä ftigt, auf den Rückweg zur Münze nicht durch die Water Lane, was kürzer gewesen wäre, sondern die Mint Street hinauf. Wenn er es auch nicht sagte, war mir doch klar, dass er eine weitere Konfrontation mit Lord Lucas vermeiden wollte. Ich folgte ihm, seine Nachdenklichkeit respektierend, in einigem Abstand.
In der Amtsstube holte ich uns je einen Becher Apfelwein welchen er sehr liebte und bemerkte, dass Newton immer noch tief in Gedanken war. Er setzte sich in seinen Lieblingssessel am Feuer, nahm die Perücke ab, was immer ein Zeichen dafür war, dass er es seinem Gehirn so bequem wie möglich machen wollte, fasste seine Spitzenhalsbinde mit beiden Händen und drehte sie wie eine Garotte, als wollte er etwas Brauchbares aus seinem Kopf herausquetschen.
Eine ganze Weile glaubte ich, er mache sich immer noch Vorwürfe oder sei in Gedanken bei der Geheimschrift. Obgleich der Brief, den er bei dem Major gefunden hatte, noch immer in seiner Tasche
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