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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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versuchten das Seil, an dem er immer noch hing, auf die innere Befestigungsmauer emporzuziehen. Was Newton so erzürnte, dass er das Tafelmesser mit Elfenbeingriff, welches er manchmal bei sich trug, hervorzog und das Seil durchtrennte, worauf der Leichnam genau in den Rhabarber des Münzrevisors fiel, der, obgleich eine Heilpflanze, den Major doch nicht wiederzuerwecken vermochte.
    Als Lucas sich um die Jurisdiktion in diesem Fall betrogen sah da, wie Newton Seiner Lordschaft ins Gedächtnis rief, auch hier die Devise «Besitz gibt Recht» galt, nahm sein edles Gesicht eine apoplektische Färbung an und er donnerte die vielfältigsten Drohungen herab, wie er sich an Newton rächen würde, sobald er das nächste Mal mit den Lordrichtern zusammenträfe, was Newton gar nicht zu hören schien. Dieser examinierte jetzt vielmehr das Seil um Mornays Hals genauer, als es zuvor
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    aufgrund der erhöhten Position des Majors möglich gewesen war.
    «Tragisch», seufzte er. «Der arme Kerl.»
    Ich hatte den Major nicht gemocht, er hatte mich schließlich mit seinem Dolch zu erstechen versucht, aber auch ich bedauerte ihn jetzt, wie ich alle Selbstmörder bedaure, denn das Gesetz verurteilt den Selbstmörder zu einem höchst unkomfortablen Grab. Und etwas Derartiges murmelte ich jetzt in Newtons Hörweite.
    «Ich habe in Ausübung meiner Amtspflichten genügend Hinrichtungen beigewohnt, um zu wissen, wie sich Erhängen auf den Hals eines Mannes auswirkt», sagte Newton. «Ich konnte beobachten, dass das Genick äußerst selten bricht und der Tod meist durch schlichte Strangulation eintritt. Die Luftzufuhr zur Lunge kommt zum Erliegen, aber genauso wichtig ist, wenn man William Harveys Buch glauben darf, dass Barmherzigerweise auch kein Blut mehr ins Gehirn gelangt.
    Wenn man einen Menschen herunterschneidet, noch ehe sich der Darm entleert hat, bleibt der Schlinge nicht die Zeit, sich so fest zusammenzuziehen wie beim regulären Erhängen. Dennoch habe ich bemerkt, dass die Geometrie dieses Geschehens stets eine Marke am Hals hinterlässt und zwar so, dass man unterscheiden kann, ob der Betreffende über längere Zeit von dem Strick stranguliert wurde oder kaum an demselben hing.
    Beim Hängen ist der Zug auf die Schlinge größer als beim Erdrosseln und es ist unwahrscheinlich, dass sie den Hals waagrecht umschnürt. Meist sitzt sie vorn in Kehlkopfhöhe und steigt dann zum Aufhängepunkt oder Knoten hin an, wobei dieser mit seinem charakteristischen stumpfen Winkel beim Ohr oder am Hinterkopf sitzt. Das heißt, dass bei den meisten Erhängten die Strangmarke naturgemäß dem Aufhängepunkt gegenüber am tiefsten ist.
    Aber in diesem Fall werdet Ihr, wenn Ihr bitte hinsehen wolltet,
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    bemerken, dass der Hals zwei feine Schlingenmarken aufweist.»
    Ich musterte, wie mir geheißen, Mornays Hals, wobei ich die geschwollene Zunge, die hervorstand wie eine dritte Lippe, ebenso zu ignorieren versuchte wie die grässlich hervorgequollenen Augen, welche zwei nässenden Schankergeschwüren glichen. Und ich sah, wie er gesagt hatte, am gebrochenen Hals des Majors nicht einen Schlingenabdruck, sondern zwei.
    «Was bedeutet das?», fragte ich unsicher. «Dass das Seil verrutscht ist, als er sich vom Turm gestürzt hat?»
    «Nein», sagte Newton entschieden. «Dass er erdrosselt wurde, bevor er vom Turm geworfen wurde. Und da Erdrosseln kaum je Selbstmord ist, folgt daraus wohl, dass er ermordet wurde.»
    «Tatsächlich?»
    «Zweifelsohne», insistierte er. «Die erste Marke, welche vom Erdrosseln herrührt, ist sogar im Nacken sichtbar, wo die Haut dick und das Gewebe zäh ist und kann nur durch extreme Gewalt einerseits und verzweifelte Gegenwehr andererseits verursacht worden sein. Zudem verläuft diese Marke waagrecht, was darauf hinweist, dass der Major von hinten angegriffen wurde.
    Und jetzt betrachtet im Vergleich die zweite Marke, welche wesentlich schräger verläuft und nahezu keine Vitalschäden aufweist. Das lässt darauf schließen, dass der Mann tot war, als diese Marke entstand.»
    Das alles gab mir das Gefühl, dass Newton über das Erhängen so viel wusste wie der Henker selbst, weshalb ich auf seine Argumente nichts weiter zu sagen wusste, als dass ich dem nichts entgegenzusetzen hätte. Und ich war wie immer verblüfft, was er alles zu wissen schien. Aber vielleicht war es ja nur logisch, dass der Mann, der die Gravitation erklärt hatte, so qualifiziert, ja, man muss schon sagen, animiert, über das Thema

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