Nexus
Schaffenskraft. Was für ein Leben! Und ich — ich stand erst auf der Schwelle. Erst wenn ich neunzig oder hundert Jahre werden sollte, würde ich was herzuzeigen haben.
Noch ein anderer, fast ebenso beunruhigender Gedanke kam mir in den Kopf. Würde ich je etwas Annehmbares schreiben? Die Antwort kam mir sofort auf die Lippen: Ich scheiße darauf!
Ein dritter Gedanke: Warum war ich so auf Wahrheit versessen?
Die Antwort war hier ebenso klar und reinlich: Weil es nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gibt .
Ein winziges Stimmchen machte den Einwand: «Die Literatur ist wieder etwas anderes.»
Dann zum Teufel mit der Literatur! Ich wollte das Buch des Lebens schreiben.
Unter welchem Namen?
Unter dem Namen des Schöpfers .
Damit schien die Sache endgültig klar zu sein.
In der Nacht warf ich mich schlaflos hin und her, weil ich daran dachte, daß ich eines Tages diese Aufgabe in Angriff nehmen mußte. Das Buch des Lebens . Wie eine Fata Morgana stieg es vor meinen Augen auf. Jetzt, da ich das Gelübde getan hatte, es zur Wirklichkeit zu machen, sah das Unternehmen weit größer aus, die Vollendung weit schwieriger als in dem Augenblick, wo ich davon gesprochen hatte. Die Aufgabe war in der Tat überwältigend. Trotzdem war ich mir über eines sicher: sobald ich sie begänne, würde der Strom fließen. Ich würde den Inhalt nicht tropfenweise herausquetschen müssen. Ich dachte an das erste Buch, das ich geschrieben hatte - die Zwölf Telegrammboten . Was für eine Fehlgeburt! Seit damals hatte ich zwar kleine Fortschritte gemacht, das stimmte, obschon nur ich das wußte. Aber was für eine Materialverschwendung war das gewesen? Ich hätte über alle achtzig- oder hunderttausend schreiben müssen, die ich während dieser brodelnden kosmokokkischen Jahre angestellt und entlassen hatte. Kein Wunder, daß ich ständig stockheiser war. Allein das Reden mit so vielen Leuten war schon eine Leistung. Aber es war nicht das Reden allein, es waren ihre Gesichter. Was erzählten die nicht alles! Kummer, Wut, Enttäuschung, Verschlagenheit, Bosheit, Verräterei, Dankbarkeit, Neid und so fort, als wenn ich es nicht mit Menschen, sondern mit Totemtieren zu tun hätte, mit Fuchs, Luchs, Schakal, Krähe, Lemming, Elster, Taube, Moschusochse, Schlange, Krokodil, Hyäne, Mungo, Eule . . . Ihre Bilder waren mir noch gut im Gedächtnis, die Guten und die Bösen, die Schelme und die Lügner, die Krüppel, die Narren, die Landstreicher, die Spieler, die Blutegel, die Perversen, die Heiligen, die Märtyrer, alle miteinander, die Gewöhnlichen und Außergewöhnlichen - bis herab auf einen gewissen Gardekavallerieleutnant, dessen Gesicht so verstümmelt war — durch die Roten oder die Schwarzen —, daß er weinte, wenn er lachte, und jauchzte, wenn er weinte. Er kam oft zu mir, gewöhnlich, um eine Beschwerde vorzubringen. Dann stand er stramm, als wäre er das Pferd und nicht der Gardist. Und den Griechen mit dem langen Pferdegesicht, offenbar ein Gelehrter, der aus dem Gefesselten Prometheus - oder war es Der schlecht gefesselte? - vorlesen wollte. Ich hatte nichts gegen ihn, aber warum erregte er immer meinen Zorn oder meinen Spott? Um wieviel interessanter und liebenswerter war der glasäugige und geschlechtstolle Ägypter, immer in Erregung, besonders wenn er nicht einmal oder zweimal täglich die Hoden entleert hatte. Und diese Lesbierin - Ilias nannte sie sich, warum Ilias? - so schön, so sittsam und so schüchtern . . . dabei eine vortreffliche Musikerin. Ich weiß das, weil sie eines Abends ihre Geige mitbrachte und mir im Büro etwas vorspielte. Und nachdem sie ihren Bach, Mozart und Paganini heruntergespielt hatte, teilte sie mir voll Bitterkeit mit, sie habe es satt, Lesbierin zu sein und wolle lieber Hure werden — und bitte, könne ich ihr nicht einen besseren Arbeitsraum geben, wo sie so nebenbei ein bißchen verdienen könne?
Wie einst zogen sie alle an mir vorüber — mit ihren Eigenheiten, ihren Grimassen, ihren Anliegen und ihren kleinen Schwindeleien. Jeden Tag wurden sie sozusagen aus einem großen Zementsack auf meinen Schreibtisch geschüttet, sie und ihre Schwierigkeiten und ihre Probleme, mit all ihrem Weh und Ach. Vielleicht hatte jemand, als man mir diesen scheußlichen Posten gab, den großen Kritzelkratzelmeister bestochen und ihm gesagt: «Geben Sie diesem Mann einen Posten, auf dem er genug zu tun hat, damit er durch den Dreck der Wirklichkeit stapfen muß und ihm die Haare zu Berge stehen.
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