Nexus
wie wenn man im Schlaf kackt. Sicher ein Hochgefühl, aber zuerst kommt das Leben, dann das Kacken. Leben ist Wechsel, Bewegung, Suchen . . . ein immerwährendes Vorwärtsdringen, um das Unbekannte, das Unerwartete zu finden. Nur sehr wenige können von sich sagen: ‹Ich habe gelebt.› Darum haben wir Bücher, damit die Menschen ersatzweise leben können. Aber wenn der Autor auch nur ersatzweise lebt -»
Sie unterbrach mich. «Wenn ich dich manchmal höre, Val, habe ich das Gefühl, daß du tausend Leben in einem einzigen führen möchtest. Du bist ewig unzufrieden - mit dem Leben, so wie es ist, mit dir selbst, mit allem möglichen. Du bist Mongole. Du gehörst in die Steppen Mittelasiens.»
«Weißt du», sagte ich, jetzt ein wenig hitzig, «ein Grund, warum ich mich so aufgeschmissen fühle, ist der, daß etwas von allem in mir steckt. Ich kann mich in jedes Zeitalter hineinversetzen und mich dort heimisch fühlen. Wenn ich über die Renaissance lese, fühle ich mich als Renaissancemensch, wenn ich mich über eine der chinesischen Dynastien unterrichte, fühle ich genau wie ein Chinese jener Zeit. Um welche Rasse, um welches Zeitalter oder Volk es sich auch handelt, ich bin dort völlig zu Hause, und immer ist es eine reiche, mit Gobelins behangene Welt, deren Wunder unerschöpflich sind. Das ist meine Sehnsucht: eine von Menschen menschlich eingerichtete Welt - eine Welt, die den Gedanken, den Träumen und den Wünschen des Menschen entgegenkommt. An unserem Leben hier, an diesem Leben in Amerika fällt mir eben das auf, daß wir alles, was wir nur berühren, zerstören. Man mag von den Mongolen und den Hunnen reden, was man will, im Vergleich zu uns waren sie Kavaliere. Ich sehe meine Landsleute mit den Augen meiner Vorfahren. Ich sehe durch sie hindurch - sie sind hohl, wurmstichig ...»
Ich nahm die Flasche Gevrey-Chambertin und füllte die Gläser nach. Es war noch genug für einen guten Schluck übrig.
«Auf Napoleon!» sagte ich. «Ein Mann, der das Leben bis zur Neige ausgekostet hat.»
«Val, ich bekomme manchmal Angst, wenn ich dich so von Amerika sprechen höre. Haßt du es wirklich so sehr?»
«Vielleicht ist es Liebe», sagte ich. «In Haß verwandelte Liebe, ich weiß es nicht.»
«Hoffentlich bringst du nichts davon in den Roman.»
«Sei unbesorgt. Der Roman wird so unwirklich sein wie das Land, in dem er spielt. Ich brauche nicht eigens zu sagen: ‹Alle Gestalten dieses Buches sind frei erfunden› oder so ähnlich, wie man es auf der Titelseite der Bücher liest. Niemand wird irgendeine der Personen erkennen, der Verfasser am allerwenigsten. Es wird etwas Gutes werden - unter deinem Namen. Das wäre ein Witz, wenn das Buch ein Bestseller würde! Wenn die Reporter an die Tür klopfen, um dich zu interviewen!»
Die Vorstellung erschreckte sie. Ihr kam das gar nicht komisch vor.
«Du hast mich eben einen Träumer genannt. Ich will dir eine Stelle vorlesen - sie ist kurz — aus The Hill of Dreams . Du solltest das Buch gelegentlich lesen, es ist ein Traum von einem Buch.»
Ich ging zu dem Bücherbrett und schlug das Buch an einer Stelle auf, die ich im Sinn hatte.
«Er hatte gerade über Miltons Lydias gesprochen und auseinandergesetzt, warum es wahrscheinlich das vollkommenste Stück reiner Literatur ist, das es überhaupt gibt. Dann sagte Machen: ‹Literatur ist die sinnliche Kunst, außergewöhnliche Eindrücke durch Worte zu vermitteln^ Aber hier ist die Stelle, sie folgt gleich danach:
‹Und doch war es noch etwas mehr. Außer dem logischen Denken, das oft eine Behinderung, eine lästige, wenn auch unzertrennliche Zugabe ist, außer der Empfindung, die immer ein Vergnügen und eine Wonne ist - außer diesen gab es noch die undefinierbaren, unaussprechlichen Bilder, die alle schöne Literatur im Geist hervorruft. Wie der Chemiker manchmal bei seinen Experimenten zu seinem Erstaunen unbekannte, unerwartete Elemente im Schmelztiegel oder im Reagenzglas vorfindet, wie die Welt der materiellen Dinge von manchen Physikern als ein dünner Schleier des immateriellen Universums angesehen wird, so spürt derjenige, der wundervolle Prosa oder Verse liest, Vorstellungen und Anregungen, die nicht in Worte gebracht werden können, die sich nicht aus dem logischen Sinn ergeben, sondern die eher jenen parallel laufen, die mit dem sinnlichen Empfinden verbunden sind. Die Welt, die sich uns so enthüllt, ist eher eine Traumwelt, eine Welt, wie sie Kinder manchmal erleben, die unvermutet
Weitere Kostenlose Bücher