Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
aber keinen festen Boden mehr unter den Füßen haben. Was sollen wir tun?«
Golo fuhr sich über sein stoppeliges Kinn. »Wenn wir auf die Insel zugehen, haben wir wenigstens ein Ziel. Dieser Damm scheint mir ins Nichts zu führen. Versuchen wir das Stück durch den Sumpf zu kommen!«
»Und was ist, wenn wir in der Finsternis die Richtung verli e ren?«
»Ihr denkt zuviel, Herr. So viele Möglichkeiten haben wir letzten Endes nicht. Entweder bleiben wir auf dem Damm und frieren uns die Seele aus dem Leib, oder wir wagen uns über das unsichere Wegstück. Wir werden entweder versinken oder aber in einer Stunde vor einem warmen Feuer sitzen. Vielleicht solltet Ihr ein Signal mit Eurem Horn geben. Egal, wer dort hi n ten auch haust, wenn er ein Herz im Leib hat, wird er uns ein Zeichen geben, damit wir die Richtung halten können.«
»Wie du meinst!« Der Spielmann schnallte das Horn von se i nem Sattel und setzte es an die Lippen. Dreimal stieß er hinein, dann machte er eine kurze Pause und wiederholte das Signal. Hinter ihnen platschte etwas ins Wasser und entfernte sich rasch. Golo schluckte.
»Sicher nur eine Ratte oder ein Biber.«
Der Knecht nickte. »Bestimmt habt Ihr recht, Herr.« Vielleicht war es doch nicht so klug gewesen, solchen Lärm zu machen. Golo dachte an die Worte des alten Bauern. Indem sie die Köpfe der Normannen bestatteten, hatten sie angeblich den Zorn der Feenkönigin erweckt. Vielleicht streiften ihre Ritter oder i r gendwelche unheimlichen Geschöpfe, die in ihren Diensten standen, durch den Sumpf und waren jetzt auf sie aufmerksam geworden. Wären sie nur niemals in dieses verfluchte Land g e kommen! Im Geiste malte sich Golo schon aus, wie auch sein Kopf auf einem Pfahl steckte. Ihn würde bestimmt niemand erretten. Die Raben würden kommen und ihm das Fleisch vom Schädel picken.
»Wir sind sicher noch zu weit weg«, murmelte der Spielmann halblaut. »Wir müssen näher an die Insel kommen. Dann ve r suche ich es noch einmal.« Erneut stocherte er mit der Lanze im dunklen Wasser herum, dann verließ er den Weg.
Golo zögerte. Leise betete er zur Jungfrau Maria und folgte dem Ritter.
Volker wußte mittlerweile nicht mehr, in welche Richtung sie gingen. Ein Dutzend Mal oder noch öfter hatten sie Umwege machen müssen, um Schlammlöchern auszuweichen. Eine Or i entierung war unmöglich. Der Himmel war von dunklen Wo l ken verhangen, und nicht einmal der Mond war noch zu sehen. Sie bewegten sich durch absolute Finsternis! Der Spielmann war sich inzwischen sicher, daß sie innerhalb der nächsten Stunden den Tod finden würden. Es gab kein Entkommen aus dieser Falle, in die sie Jean geschickt hatte. Er hätte den Bauern besser behandeln sollen!
Fast wie Hände griff der weiche Schlamm nach Volkers F ü ßen. Er stand knietief im Wasser, und mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, sich der kalten Umklammerung des Moors zu erwehren.
Noch einmal setzte er das Horn an die Lippen und blies sein Signal, doch glaubte er nicht mehr daran, daß sie gerettet wü r den. Vielleicht hatte er sich das Licht auf der Insel auch nur eingebildet, oder sie gingen längst in eine falsche Richtung und entfernten sich mit jedem Schritt weiter von sicherem Grund.
Hinter ihm ertönte ein Schrei. Erschrocken fuhr er herum. G o lo steckte bis weit über die Hüften im Schlamm. Mit rudernden Bewegungen versuchte er sich zu befreien. Volker schien es, als würde der Knecht mit jedem Atemzug ein Stück weiter versi n ken.
»Halt dich fest.« Er reichte ihm das stumpfe Ende der Lanze. »Ich zieh ’ dich heraus. Keine Sorge!«
Ein breiter Streifen goldenen Lichts fiel auf das Wasser. »Geh zwei Schritt zur Seite, Ritter. Auch du stehst nicht auf sicherem Grund. Und sag deinem Freund, er soll sich ganz still verhalten, sonst wird er nur um so schneller versinken.« Volker blickte über seine Schulter. Keine zehn Schritt hinter ihm stand eine hochgewachsene, schlanke Frau vor einer Tür aus verwittertem, grauen Stein.
Der Ritter tat wie ihm geheißen, und tatsächlich war der B o den, auf dem er nun stand, so fest wie gewachsener Fels. »Hast du gehört, Golo? Zapple nicht wie ein Fisch auf dem Trock e nen!«
»Ihr habt gut reden!« fluchte der Knecht. »Ich möchte Euch einmal sehen, wenn Ihr das Gefühl habt, tausend kleine Teufel ziehen an Euren Füßen.«
»Nur mit der Ruhe, gleich bist du da heraus.« Der Ritter zog nach Leibeskräften an der Lanze, doch schien sich Golo keinen Zoll bewegt zu haben.
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