Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
Die steifgefrorenen Finger des Knechtes fanden keinen richtigen Halt am glatten Schaft der Lanze.
»Ich werde ein Seil holen«, rief die Frau auf der Insel und ve r schwand in der Finsternis.
»Bei allen Heiligen, ich schwöre, daß ich nie wieder fluchen oder einen Schluck Branntwein anrühren werde. Ich will auch nicht mehr lügen und … «
»Hör endlich auf, so herumzustrampeln, du Trottel!« fluchte Volker. »Dann werden die Heiligen dich vielleicht auch erh ö ren!«
»Das Seil, Herr Ritter.« Wie ein Geist stand die Frau vom Ufer plötzlich hinter Volker. Einen Atemzug lang starrte er sie wie gebannt an. Sie war nicht sehr groß und ungewöhnlich blaß. Langes braunes Haar fiel ihr in Locken bis zu den Schultern hinab. »Macht es am Sattel Eures Hengstes fest. Nur er wird die Kraft haben, Euren Diener aus dem Sumpf zu holen.«
Der Krieger nickte stumm. Er knüpfte eine Schlinge in das Seil und warf es Golo zu. »Schling dir das um den Leib! Dann kannst du weiterbeten.«
Der Spielmann ging zu seinem Schlachtroß und strich dem Tier beruhigend über die Nüstern. »Nur ein kleines Stück noch, Lanzenbrecher, dann sind wir wieder auf festem Boden, und ich werde dich trockenreiben. Leg dich ins Zeug, mein Starker. Ich weiß, daß du es schaffen wirst.« Volker schlang das Seil um das Sattelhorn und nahm die Zügel des Pferdes. »Komm jetzt!«
Die Muskeln des großen Hengstes spannten sich. Leise knirschte das Sattelzeug. Wasser perlte vom gestrafften Seil. Der Knecht stöhnte. »Das Seil drückt mir die Luft ab.«
»Komm schon, Lanzenbrecher!« Volker griff jetzt auch nach dem Seil und zog nach Leibeskräften.
Golo stieß einen schrillen Schrei aus. »Etwas hat nach meinem Fuß gegriffen! Eine Klauenhand! Heilige Jungfrau Maria, hilf. Die Teufel sind gekommen, um mich in das Reich Luzifers zu zerren.«
»Vorwärts, Lanzenbrecher!« Volker gab dem Hengst einen Klaps auf die Hinterhand. Wiehernd bäumte er sich auf. Seine Hufe ließen das faulige Wasser aufspritzen. Es gab einen Ruck im Seil, und Golo war frei.
»Die Hand! Sieh nur her! Er hat die Hand abgerissen!« schrie der Knecht hysterisch und deutete auf seinen rechten Fuß. E t was Dunkles, Armlanges hing daran.
Volker schlug ein Kreuz und kniete nieder. Dann lachte er laut auf. »Deine Hand ist nichts weiter als eine vermoderte As t gabel, an der du hängengeblieben bist.«
Golo starrte ungläubig auf das schwarze Holz. »Das kann nicht sein. Ich habe genau gefühlt, wie es zugegriffen hat. Das ist Zauberwerk der Feen! Ich bin mir sicher, daß es eine Hand war. Es hat sich in dem Augenblick verwandelt, in dem Ihr d a nach gegriffen habt, Herr.«
Volker lachte. »Hol dein Pferd und das Packtier. Wir sind g e rettet.« Der Spielmann erhob sich und strich sich etwas verl e gen über seine schmutzige Hose. In bester höfischer Manier verbeugte er sich vor seiner Retterin. Sie trug ein schlichtes, graues Leinenkleid, das am Saum mit zwei grünen Flicken au s gebessert war. »Meine Dame, ich weiß nicht, wie ich Euch da n ken kann. Ohne Eure Hilfe wären mein Knecht und ich siche r lich im Sumpf zugrunde gegangen. Ich schulde Euch mein L e ben.«
Die Frau nickte. »Was Eure Schuld angeht, Herr Ritter, so wüßte ich sehr wohl, wie Ihr sie abtragen könntet. Überlaßt mir das Packpferd.«
Der Spielmann schluckte. Mit derart unbescheidener Gier hä t te er nicht gerechnet. Er musterte die Frau. Ihr Gesicht war schmal, die Lippen zusammengepreßt. Sie hielt seinem Blick stand. Ihre großen, graugrünen Augen wirkten freundlich. Ihre ganze Erscheinung stand in krassem Gegensatz zu dieser ma ß losen Forderung. Volker hatte gehofft, seine Schuld mit ein w e nig charmanter Plauderei und ein paar Liedern vorm Kami n feuer begleichen zu können.
»Wir haben den Geistern der Sümpfe ein Leben gestohlen«, erklärte sie leise. »Wir müssen ihnen dafür ein anderes zurüc k geben, oder sie werden beim nächsten Mal die Schuld doppelt und dreifach eintreiben.«
»Was sagt Euer Pfaffe zu solch Götzendienst?«
»Ich beuge mein Haupt nicht vor den Priestern des Zimme r mannssohns. Über ihn gibt es nur Worte. Die alten Götter aber kann ich spüren. Sie sind um mich herum, in den Bäumen und im Wind. Einmal bin ich im Sumpf sogar der Morrigan bege g net. Diese Götter sind mehr als nur Geschwätz. Genauso wie die Geister des Sumpfes.«
»Wohlan denn, meine Dame. Ich bin Ritter, und ich stehe zu meinem Wort. Ihr mögt das Packpferd haben. Wieviel haben wir
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