Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
der dritten der Schwestern, berichten die Alten, sie sei unbeständig wie der Wind. Sie wurde aus den Schreien der Sterbenden und der Klage von Witwen und Waisen geboren. Mutter der Trauer wird sie genannt, und sie ist eine Dichterin. Ihr Klagegesang weist die Geister der Toten zu ihrer endgült i gen Heimstatt, und wenn die Raben über den Schlachtfeldern krächzen, dann ist auch Nemans Stimme zu hören.«
Volker war gegen die Wand gesunken. Niamhs Stimme und das leise Flüstern ihrer Harfe woben ihm ein Schlaflied, und bald träumte er von einem raucherfüllten Himmel über einem brennenden Hügel. Weit im Westen stand eine blaßrote Sonne nur eine Handbreit über dem Horizont, und von dort kamen drei große Raben auf ihn zugeflogen.
Golo spürte, daß ihm irgend jemand folgte. Er war in einem Wald, und dichte Nebelschwaden trieben zwischen den mäc h tigen, schwarzen Baumstämmen. In der Ferne ertönte leise Ha r fenmusik. Er wußte nicht genau, wie er an diesen Ort geko m men war. Das letzte, woran er sich deutlich erinnern konnte, war, wie Niamh sie aus dem Sumpf gerettet hatte.
Ganz in der Nähe knackte ein dürrer Ast. Gehetzt blickte der Knecht sich um. Nichts! Doch in dem Nebel würde er nicht einmal auf fünf Schritt einen ausgewachsenen Drachen erke n nen.
Es war gewiß klüger, nicht allzu lange an einem Ort zu ve r weilen. Was immer ihn auch verfolgte, es durfte ihn auf gar keinen Fall einholen! Dem Sumpf war er entronnen, doch er ahnte, daß im Nebel noch eine ungleich tödlichere Bedrohung lauerte. Warum war Volker nicht bei ihm? Für einen Auge n blick war er versucht, den Namen des Ritters zu rufen, doch damit würde er nur seine Verfolger auf sich aufmerksam m a chen. Er mußte auf sich allein gestellt entkommen!
Etwas raschelte im Unterholz. Golo begann zu laufen. Mit e i nem Sprung setzte er über einen gestürzten Baumstamm hi n weg. Dahinter schien ein Wildpfad zu beginnen. Oder wichen die Büsche vor ihm zurück …
Er rannte, bis jeder Atemzug wie Messer in seine Kehle stach. Sein Weg war von hohen Dornenranken gesäumt. Einmal glaubte er, zwischen den Büschen ein Kind gesehen zu haben. Doch als er kurz verharrte, um genauer hinzuschauen, waren dort nur noch tanzende Nebelschwaden. Golo hatte jetzt das Gefühl, daß sein Herz so laut wie eine Trommel schlug.
Hinter dem Dornengestrüpp ertönte leises Kichern. Waren das die Feen? Trieben sie ihren Schabernack mit ihm? Oder ve r folgten ihn irgendwelche anderen Waldgeister?
Vor ihm lichtete sich der Nebel. In einer weiten Spirale waren Pfähle aufgestellt, auf denen Hunderte von Schädeln steckten. Erschrocken wich er zurück.
»Du wirst deinem Schicksal nicht entkommen, Fremder!« e r tönte eine Frauenstimme hinter ihm. Der Hohlweg zwischen den Dornenranken war verschwunden. Statt dessen stand dort eine riesige Eiche, hinter der sich eine nebelverhangene Sump f landschaft erstreckte. Aus der Rinde des Baums heraus löste sich eine Gestalt! Eine Frau in braunem Kapuzenmantel mit einem prächtigen Schwert in der Hand. Sie breitete die Arme aus und blickte zum Geäst der Eiche hinauf. »Sieh die Trophäen meiner Siege. Schon morgen wird ein neues Schwert von diesen Ästen hängen.«
Jetzt erst bemerkte Golo den eigentümlichen Schmuck des Baumes. An Seilen hingen Schwerter, Morgensterne und Strei t kolben. Selbst die Waffenkammer in der Burg König G u nthers war nicht so gut bestückt wie die Sammlung dieses dämon i schen Weibes. Eine ganze Armee könnte man damit ausrüsten.
Vom Sumpf her kam Wind auf, und die Klingen der Schwe r ter schlugen leise klirrend aneinander. »Hast du … all diese Krieger erschlagen?«
Die Frau lächelte und strich sich eine Strähne weißen Haars zurück, das unter ihrer Kapuze hervorgequollen war. Der Wind bauschte ihren Mantel auf, und ein Wicht mit einer Haut wie Eschenrinde kroch unter dem Saum hervor. »Niemals wird ein Sterblicher in den Landen der Feen regieren!« krächzte er mit heiserer Stimme und lachte. Es war dasselbe Lachen, das Golo hinter den Dornenhecken gehört hatte.
»Du bist gekommen, um unseren Frieden zu stören, nicht wahr?« Das Lächeln war aus dem Gesicht der Frau verschwu n den. »Du bist gefährlicher als die Ritter, denn du willst nicht kämpfen … «
»Ihr irrt Euch … « stammelte Golo und wich zurück. »Ich will nur fort aus den Sümpfen. Niemals hatte ich vor, König an E u rer Seite zu werden, und mir genügt es … «
»Holt ihn!« Die Frau wies mit
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