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Nibelungen 04 - Das Nachtvolk

Titel: Nibelungen 04 - Das Nachtvolk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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Zauberformeln, während eine andere Frau Räucherwerk entzündet hatte und damit über den bleichen Knochen hin und her wedelte, so als wolle sie auf diese Weise den Geist des Ve r storbenen besänftigen.
    Als der letzte Knochen von der bronzenen Liege entfernt war, begann Neman ein Lied in einer fremden Sprache anzusti m men, während die Priesterinnen den Körper des toten Kriegers auf seine letzte Ruhestatt hoben und dann das Leintuch unter ihm hinwegzogen. Der Mann war enthauptet worden. Sein Körper war ausgezehrt. Flüchtig konnte Volker die tiefe Wunde über der Hüfte sehen, die Arbotorix, dem Recken der Morrigan, den Tod gebracht haben mußte.
    Ob jetzt der Zeitpunkt war, sich zu erheben? Gott allein wu ß te, wie lange die Priesterinnen noch in der Grabkammer bleiben würden. Wie mochte er dieses Schauspiel am eindrucksvollsten gestalten? Sollte er sich mit einem Schrei erheben? Nein! Er sol l te ein Sänger sein … Er erinnerte sich an einige Verse eines tra u rigen Liedes, das Neman einmal gesungen hatte. Er würde sie leicht ändern. Sein neues Leben sollte mit einem Lied beginnen. So ziemte es sich für einen Spielmann. Die ersten Worte hauc h te er nur leise, doch dann wurde seine Stimme immer lauter.
    » Das Mark in meinen Knochen schmerzt mich,
    Neman!
    Das Blut in meinen Adern ist eine bitterwilde Flut,
    Neman!
    Es ist dein Herz, das ruft und das ich höre,
    Neman!«
    Die Stimmen der Priesterinnen waren verstummt, und die ju n gen Frauen waren totenblaß, als Volker sich zwischen den G e beinen erhob. In der Rechten hielt er sein Schwert, und er kon n te an den Gesichtern der Frauen ablesen, daß jede ihn für einen Krieger hielt, der aus dem Totenreich zurückgekehrt war.
    » Ist es der Wind im Wald,
    ist es Brandung, die am Fels zerbricht,
    oder spricht die Stimme deines Herzens zu mir,
    Neman
    und ruft mich aus dem Grab zurück.

    Meine Göttin mit den weißen Brüsten,
    meine Göttin mit dem kup fernen Haar
    und den Lippen, so rot wie Vogelbeeren,
    Neman!

    Wo ist der Schwan, der weißer ist als du,
    wo die Woge der See, die sich b ewegt wie du,
    Neman!

    Kein Grab ist so tief,
    keine Zeit so weit,
    daß ich die Stimme deines Herzens nicht zu hören vermöchte,
    Neman!«
    Die wiedererstandene Göttin schritt an der Totenliege vorbei und trat vor ihn hin. Vorsichtig und langsam streckte sie die Hand aus und strich ihm über die Wange. »Bist du der Mann, den uns unsere Ahnen verheißen haben? Bist du der Sänger, der sich aus den Gebeinen der toten Helden erhebt?«
    »Ich bin jener, den die Stimme seines Herzens aus dem Grab befreit!« Volker konnte sehen, wie sich eine steile Zornesfalte auf der Stirn der Hohepriesterin zeigte. Er sollte seine Worte mit mehr Bedacht wählen!
    »Der Streiter der Morrigan ist von uns gegangen«, erklärte Neman mit fester Stimme. »Folge uns aus dem Grab, Sänger. Die Krieger von Tirfo Thuinn erwarten dich. Mögen sie en t scheiden, ob du ihr neuer Herr sein magst. Folge mir!« Neman drehte sich um und trat zu der steinernen Pforte der Gra b kammer. Volker fluchte innerlich. Sie hatte sich mit keinem Wort eine Blöße gegeben. Er war davon ausgegangen, mit se i nem Auftritt nur ein paar Priesterinnen beeindrucken zu mü s sen. Er brauchte sich nur umzublicken, um zu sehen, daß ihm dies gelungen war. Mit den Kriegern war das etwas anderes. Sie würden ihn nicht zwischen den Knochen aufstehen sehen und würden gewiß sofort seinen Akzent bemerken. Volker war sich bewußt, daß er, so sehr er sich auch bemühen mochte, den merkwürdigen, altertümlichen Dialekt der Feen nicht nacha h men konnte. Wollte Neman ihn ans Messer liefern? Doch dann hätte sie schon hier unten gegen ihn sprechen können. Nein, sie war lediglich nicht bereit, auch nur das geringste Risiko einz u gehen. Keinen Schritt würde sie ihm entgegenkommen. Entw e der schaffte er es, die Krieger dort oben zu überzeugen, oder er war ein toter Mann, und die Frau, die ihn über Wochen g e sundgepflegt hatte, würde zusehen, ohne nur mit der Wimper zu zucken.
    Er folgte der wiedergeborenen Göttin in den langen Gang, der sie hinaus in die Nacht führen würde. Hinter ihm erklangen die leisen Schritte der anderen Priesterinnen. Volker ging mit hoch erhobenem Haupt und festem Schritt. Er durfte nach außen nicht die kleinste Schwäche zeigen. Jeder, der ihn sah, mußte davon überzeugt sein, daß er gekommen war, um zu herrschen, und nicht den geringsten Zweifel an seiner Bestimmung hegte!
    Dem Spielmann

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