Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
dachte eine Weile darüber nach und kam so auf jenen Gedanken, der ihn wesentlich mehr ängstigte als die Aussicht, mit einem Schwert in der Hand einer Übermacht von Feinden gegenüber zu stehen. Was war, wenn Neman ihn hinters Licht geführt hatte? Vielleicht war sein Tod für sie schon längst beschlossene Sache? Womöglich hatte sein Sterben sogar schon begonnen. Er lag in einer Grabkammer, tief unter der Erde, die mit einem massigen Felsrad verschlossen war, von dem er nicht wußte, wie man es von der Stelle bewe g te. Vielleicht hatte die Fee ihn betrogen! Was war, wenn der Streiter der Morrigan noch lebte und es niemals ein Begräbnis geben würde? Dann wäre er es, den sie in dieser Nacht zu Gr a be gelegt hatte! Er würde hier unten verdursten.
Das konnte nicht sein! Er sollte so etwas nicht einmal denken! Warum sollte sie das tun? Vielleicht weil du wieder genesen bist und sie deine Lügengeschichten durchschaut hat, meldete sich eine Stimme in seinem Inneren. Jetzt bist du stark genug, um sie zu überwältigen, falls es dir in den Sinn kommen sollte, auf diesem Wege die Flucht zu versuchen.
Aber warum hätte sie ihn auf so umständliche Weise ermo r den sollen? Warum eine so aufwendige Geschichte? Es hätte doch gereicht, das Essen zu vergiften, das sie ihm regelmäßig brachte.
Auch dafür gibt es einen ganz einfachen Grund, entgegnete die kalte Stimme des Zweifels. Hätte sie dich vergiftet, würde deine Leiche irgendwo auf der Insel herumliegen. Manchmal kommen auch andere Feengestalten hierher. Denk nur an die Wäscherin! Neman ist gezwungen, deine Leiche verschwinden zu lassen. Dich wegzutragen wäre schwere Arbeit … Du weißt, sie ist zierlich gebaut. Also hat sie dich hierher gebracht, an e i nen Ort, an dem ein Toter mehr nicht auffallen wird. So mußte sie dich nicht tragen.
Sie ist nicht so, versuchte sich Volker einzureden. Er dachte an all die Stunden, die sie zusammen verbracht hatten. Gewiß, sie war anders als andere Frauen. Auf ihre Art scheu und zurüc k haltend … Oder war alles nur Kalkül gewesen? Hatte sie von Anfang an mit ihm gespielt? So wie sie hatte sich noch nie eine Frau seinem Charme widersetzt. Sie war unempfänglich für Schmeicheleien, und daß er recht attraktiv war, schien sie auch zu ignorieren. Hatte sie ihn also benutzt? Aber wozu?
Ein Geräusch schreckte den Spielmann aus seinen Gedanken. Es klang wie fernes Flötenspiel. Dann hörte er auch Trommeln. Volker verharrte still und lauschte. Bald schon konnte es keinen Zweifel daran geben, daß sich die Musik näherte. Neman hatte ihn nicht belogen! Der Leichenzug kam. Hoffentlich würde es gelingen, die Priesterinnen zu täuschen. Jetzt konnte er auch schrille Stimmen hören. Das Geschrei von Klageweibern.
Rumpelnd rollte der Verschlußstein am Eingang zur Seite. Flackerndes Fackellicht fiel in die Grabkammer. Zwei Frauen in weißen Gewändern traten ein und stießen merkwürdig tri l lernde Schreie aus. Die eine von ihnen trug eine Fackel, die a n dere eine flache Tonschale, aus der duftender Rauch aufstieg. Ihnen folgte eine Gruppe von sechs Frauen, die in weiße, b o denlange Gewänder gekleidet waren. Volker stockte der Atem. Eine der Totenträgerinnen war Gunbrid! Was hatten die Feen mit ihr gemacht? Wie hatten sie die Christin dazu gebracht, an einem heidnischen Ritual teilzunehmen?
Die sechs Priesterinnen trugen ein großes Leinentuch, in dem der Leichnam des Kriegers ruhte. Jetzt betrat auch Neman die Kammer. Wie die anderen Priesterinnen war sie in ein weißes Gewand von schlichtem Schnitt gehüllt. Doch trug sie dazu prächtigen Schmuck. Schwere, goldene Armreifen, eine breite, emaillierte Kette und goldene Haarnadeln, mit der eine ko m plizierte Frisur aus Zöpfen, frischen Blüten und kleinen Ästen zusammengehalten wurde. Ihre Wangen waren mit weißem Puder eingerieben, die Lippen mit dem Saft von Waldbeeren rot bemalt und die Augen von schmalen, mit Holzkohle gez o genen Linien gerahmt. Fasziniert starrte der Spielmann aus se i nem Versteck zwischen den Gebeinen zu der Priesterin. Sie war von atemberaubender, barbarischer Schönheit.
Zwei Priesterinnen begannen, die Knochen von der bronz e nen Liege auf ein weißes Leintuch zu räumen, das sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Offenbar sollte der Streiter der Mo r rigan diesen Ehrenplatz erhalten. Aus dem Gang hinter dem Felstor erklang noch immer Trommelschlag und Flötenspiel. Die Priesterinnen, welche die Gebeine umbetteten, murmelten leise
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