Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
war übel. Er fühlte sich so wie an jenem Tag, als er zum ersten Mal am Hof des Königs in Worms aufgetreten war. Sein Magen drohte zu rebellieren, seine Beine wollten ihm den Dienst versagen. Jedesmal, wenn er einen Auftritt hatte, der ihm besonders wichtig war, kehrte dieses Gefühl zurück. Er hatte keine Erklärung dafür. Selbst wenn er völlig gesund war, fühlte er sich bei solchen Gelegenheiten wie ein Siecher, der dem Ende nahe war. Ein alter Troubadour hatte ihm einmal erklärt, dies sei die Bardenkrankheit, und es gebe kein Mittel dagegen. Der Mann hatte auch behauptet, sie sei ein gutes Ze i chen, denn an dem Tag, an dem man sich zum ersten Mal nicht mehr so elend fühle und keine Angst mehr habe, vor seinen Zuhörern zu versagen, höre man auf, ein wirklicher Barde zu sein.
Volker verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln. Vie l leicht war er schon sehr kurz davor, für immer von der Barde n krankheit befreit zu werden. Was sie wohl mit seinem Kopf machen würden? Ob er auf einem Pfahl stecken würde? Vie l leicht würde er von den wütenden Kriegern auch einfach nur in Stücke gerissen werden. Er seufzte. Er sollte diese Gedanken aus seinem Kopf verbannen. Sie raubten ihm nur Kraft!
Sie traten aus dem Eingang des Grabes. Die laue Luft des warmen Frühlingsabends war wie Balsam nach den Stunden in der stickigen Gruft. Doch das war der einzige Genuß! Der Rest erschien ihm mehr wie ein Alptraum. An den Flanken des Grabhügels und bis hinab zum Wasser standen Hunderte von Männern. Viele waren im Nebel verborgen, und man nahm nur das Licht ihrer Fackeln wahr. Die Krieger sahen aus, als hätten die Pforten der Hölle sie ausgespien. Alle erschienen sie Volker ungewöhnlich groß und kräftig. Sie hatten Schnauzbarte, deren Enden hochgezwirbelt oder zu dünnen Zöpfen geflochten w a ren. Viele waren nackt oder trugen nur Beinkleider. Ihre Körper waren mit blauen Tätowierungen geschmückt oder wenigstens mit blauer Farbe bemalt. Einige hatten etwas in ihre Haare g e schmiert, so daß sie ihnen wie Stacheln vom Kopf abstanden. Fast alle Krieger waren mit langen Schwertern bewaffnet. Mit den bunt bemalten Schilden und ihren phantastischen Helmen sahen sie aus, als ob sie bereit seien, in die Schlacht zu ziehen.
Wie Pfeile trafen ihn die Blicke der Männer. Hilfesuchend blickte sich Volker nach Neman um, doch die Hohepriesterin war verschwunden. Wie eine eisige Hand griff die Angst nach ihm. Was zum Henker hatte das zu bedeuten? Eben erst hatte die Priesterin doch noch neben ihm gestanden! Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Abgesehen vom Knistern der Fackeln und dem leisen Gluckern der Quellen war es tote n still. Volker wußte, daß er etwas sagen mußte. Nur noch wen i ge Herzschläge, und er hätte den Zeitpunkt verpaßt, an dem er die Dinge noch zu seinen Gunsten wenden konnte. Je länger das Schweigen andauerte, desto verzweifelter würde seine L a ge.
»Dort, Macha ist zu uns gekommen!« schrie ein Mann nur ein paar Schritt von Volker entfernt und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf etwas, das sich hinter Volkers Rücken befinden mußte. Erschrocken drehte sich der Spielmann um. Flankiert von zwei Fackelträgerinnen trat eine Frau, gehüllt in einen langen, schwarzen Umhang, aus dem Eingang des Grabes. Ihr Gesicht glich dem Nemans so sehr, als sei sie ihre Zwillingsschwester, doch waren ihre Züge härter. Ein grausames Lächeln spielte um ihre blutroten Lippen. Auch sie hatte weiß geschminkte Wagen, und um ihre Augen war so viel Ruß aufgetragen, daß es schien, als ruhten ihre Augäpfel in tiefen, schwarzen Höhlen. In ihrem Haar steckten zwei Rabenschwingen, und als sie mit ihren A r men den Umhang weit auseinandersteckte, sah es aus, als habe sie an Stelle menschlicher Glieder zwei Flügel. Volker schluc k te. Im Fackellicht konnte er sie nicht richtig erkennen. Etwas stimmte mit dieser Frau nicht! Ihre Arme! Sie waren zu lang! So weit, wie Macha ihren Umhang auseinanderstreckte, mußten ihre Arme mindestens einen halben Schritt länger sein, als dies bei normalen Sterblichen der Fall war.
»Sag uns, wer du bist, Fremder!« ertönte die dunkle Stimme der Kriegergöttin.
Volker atmete tief ein. Neman hatte davon gesprochen, daß die Männer von Tirfo Thuinn Krieger und Barden seien. Er würde versuchen, ihre Herzen mit ein paar abgewandelten Strophen aus einem alten Kriegslied seiner Heimat zu gewi n nen.
»Ich bin der Sturmwind,
der das Gras beugt!
Ich bin die
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