Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
Flamme,
die die Scheiterhaufen entzündet!
Ich bin der Schnitter,
der in die Reihen der Feinde fährt!
Ich bin der Sänger,
der sich aus den Gebeinen der Toten erhoben hat,
um an der Seite der wiedergeborenen Göttin zu stehen!
Ich bin der Todbringer
für jeden, der Zweifel im Herzen trägt!«
Gespannt beobachtete der Spielmann die Reaktion seiner Zuh ö rer. Viele der Krieger hatten ihre Waffen sinken lassen. Er schien sie mit seinen Worten erreicht zu haben. Doch in den Gesichtern mancher Männer konnte er noch immer die Zweifel lesen.
»Wie kommt es, daß du mit dem Dialekt der Leute jenseits der Nebel sprichst, wenn du unser Kriegerkönig sein willst? Wie willst du über uns herrschen, wenn du nicht einmal unsere Sprache beherrschst?« rief einer der Männer, und zustimme n des Gemurmel machte sich breit.
»Nicht euch zu beherrschen ist mein Ziel! Ihr seid freie Mä n ner! Doch wenn ich eure Feinde vernichten will, dann muß ich sie kennen, muß wissen, wie sie denken und welche Entsche i dungen ihre Feldherren treffen werden. Ich muß in ihnen au f gehen können, um sie dann mit eurer Hilfe um so leichter zu besiegen. Mancher von euch wird ein Jäger sein, und wer auf die Pirsch geht, der wird wissen, daß derjenige der beste Jäger ist, der denken kann wie ein Hirsch oder ein Reh, und seine Beute erlegt, weil er schon im voraus weiß, wie sich die Tiere verhalten werden.«
»Und warum sollten die Krieger von jenseits der Sümpfe kommen und uns angreifen? Keiner kennt dort unsere Stadt, und jene, die am Rand des Moors leben, fürchten das Nach t volk.«
»Sie werden kommen, weil sich die Zeiten geändert haben. Die Normannen herrschen in Aquitanien, und sie brachten die Priester des Zimmermannssohnes. Die Priester aber wollen die heiligen Haine fallen sehen, weil sie keine anderen Götter n e ben ihrem Herren akzeptieren werden.« Volker hoffte instä n dig, daß ihn diese Worte nicht ins ewige Fegefeuer bringen würden, doch wenn er hier lebend herauskommen wollte, mu ß te er die Barbarenkrieger mit seiner Rede überzeugen. »Als der Winter zu Ende ging, habt ihr die Burg eines normannischen Barons niedergebrannt, der eines eurer Heiligtümer geschändet hat. Die Normannen sind ein Volk von Eroberern, die auf ihren Schiffen aus einem kalten, unwirtlichen Land hoch im Norden gekommen sind. Sie werden es nicht dulden, daß einer der I h ren getötet wurde. Sie werden kommen und blutige Rache für den Baron nehmen.« Der Spielmann war sich zwar durchaus nicht sicher, daß König Eurich sich darum scherte, daß einer seiner Lehnsmänner ermordet worden war, doch konnten die Sumpfmänner nicht wissen, wie die Dinge in Aquitanien sta n den. Nach dem wenigen, was Volker von Neman über das Volk von Tirfo Thuinn erfahren hatte, lebten sie sehr zurückgezogen und interessierten sich nicht sonderlich für die Dinge, die je n seits der Nebelwand geschahen. Das galt jedenfalls so lange, wie sie nicht direkt betroffen waren, wie es bei Baron Rollos Versuch, den heiligen Hain zu schänden, geschehen war.
Unter den Kriegern erhob sich unruhiges Gemurmel. Es schien, als habe er eine Mehrheit der Männer mit seinen Worten überzeugt.
Macha war an Volkers Seite getreten. Mit großer Geste schwang sie ihren Mantel auf und umfing ihn mit ihrem weiten Umhang. Dann legte sie ihren Kopf an seine Brust und verhar r te so einen Augenblick lang. Der Spielmann spürte, wie ihm das Herz bis zum Halse schlug. Nemans Schwester war ihm unheimlich. Eine Mauer von Kälte schien sie zu umgeben. Ihr Umhang aus schwarzer Wolle war mit Hunderten von Rabe n federn geschmückt, und ein süßlicher Verwesungsgeruch, wie ihn der Spielmann von Schlachtfeldern kannte, ging von ihr aus.
»Es schlägt das Herz eines Barden in seiner Brust«, verkünd e te die schwarze Macha schließlich mit lauter Stimme und en t ließ ihn aus ihrer unheimlichen Umarmung. »Neman hat mir berichtet, wie er sich vor den Augen der Priesterinnen aus den Gebeinen der toten Krieger erhoben hat. Vielleicht ist er der Sänger, von dem die alten Legenden künden. Ich werde ihn mit nach Galis nehmen. Soll dort die Morrigan über sein Schicksal entscheiden!«
Zwischen den Kriegern öffnete sich eine Gasse, die zum Ufer der Insel führte. Keiner der Männer wagte es, seine Stimme g e gen den Entscheid der schwarzen Macha zu erheben.
»Folge mir!« murmelte die Rabenfrau halblaut und ging mit gemessenem Schritt zum Ufer hinab. Im Nebel eingehüllt wa r tete dort
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