Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
gesehen, wie Ihr mich in Sai n tes zum Ritter geschlagen habt.«
Jehan lächelte abfällig. »Du bist naiv, mein junger Freund. U n ter den Adligen gibt es jede Menge Neider, die keine Gelege n heit auslassen werden, meinen Namen zu beschmutzen. Zum Dreikönigsfest war ich nur ein Bischof und ein Graf, dessen Ländereien weit verstreut lagen. Jetzt bin ich ein Herzog, und wenn der Feldzug zu Ende ist, werde ich mehr Land als selbst der König besitzen. Glaubst du, das freut sie? Was denkst du, warum ich so viele Söldner angeworben habe? Ihnen kann ich eher trauen als der aquitanischen Ritterschaft. Jeder von diesen feinen Herren hofft darauf, daß ich in den Kämpfen fallen we r de. Deshalb habe ich lieber meine Söldner um mich, wenn ich in die Schlacht ziehe. Sie haben nur so lange einen gefüllten Geldbeutel, wie ich lebe. Bei ihnen brauche ich nicht zu fürc h ten, daß mich in der Schlacht womöglich ein Dolchstoß in den Rücken trifft.«
Golo blickte zu den prächtigen Zelten des Heerlagers hinab. Die meisten der Ritter mochte er nicht sonderlich. Sie waren eingebildet und überheblich. Aber waren es wirklich Mörder? Ein Hornsignal erklang, und er konnte beobachten, wie sich eine Gruppe Bewaffneter auf den Weg zum Dorf machte.
Es dauerte nicht lange, bis sich das Heer vor den Ruinen der Burg versammelt hatte. Ein wenig abseits und umgeben von Berengars Rittern aus Armorika standen die Bauern und F i scher. Von einer der Zinnen der Burgmauer hing ein Seil herab, dessen Ende zu einer Schlinge geknüpft war. Der alte Jean stand auf einem Faß. Er war völlig ruhig. Zuversichtlich blickte er zum Moor, so als erwarte er, daß die Göttin selbst erscheinen werde, um ihn zu retten.
»Ich beschuldige Jean, den Fischer, der Ketzerei und der Gö t zenverehrung. Er hat den Namen des Königs und meine Ritte r schaft beleidigt und weigerte sich, im Namen des Herren um Vergebung zu verbitten. Seine Reden beweisen, daß er ein Freund der Aufrührer in den Sümpfen ist. Da er keine Reue zeigt und sich weigert, den alten Göttern abzuschwören, veru r teile ich ihn kraft der mir durch den König verliehenen G e richtsgewalt in den Sumpflanden zum Tode durch den Strang. Wenn du noch etwas zu sagen hast, Jean, so sprich jetzt. Ich biete dir noch ein letztes Mal an, den alten Göttern abzuschw ö ren. Bist du gefügig, so schenke ich dir dein Leben.«
Jean blickte zu den Dörflern und sprach so laut und deutlich, als sei er ein Mann in den besten Jahren und kein zahnloser Greis. »Ich habe keine Kinder und keine Enkel. Der Tod hat keine Schrecken für mich. Meine einzige Enkeltochter ist der Morrigan gefolgt. Sie ist die Herrin der Sümpfe. Vergeßt das nie, meine Freunde! Sie bestimmt über unser aller Wohlerg e hen, denn sie ist ewig, so wie die Sümpfe. Den Namen Jehan de Thenac wird bald schon niemand mehr kennen, denn er und die Seinen sind dem Untergang geweiht. Sie haben den Zorn der Göttin herausgefordert, und noch bevor der Sommer v o rüber ist, werden die Raben der Morrigan ihnen ihr fauliges Fleisch von den Knochen picken.«
»Fahr zur Hölle, Ketzer!« Der Bischof schwang sich aus dem Sattel und trat das Faß zur Seite, auf dem der Alte stand. Mit einem Ruck straffte sich das Seil.
Golo, der nur wenige Schritt entfernt stand, konnte das tr o ckene Knacken hören, mit dem das Genick des Fischers brach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Tote über ihre Köpfe hinweg zum Sumpf. Das Seil pendelte leicht hin und her. Es war völlig still, als plötzlich in der Ruine des Bergfrieds ein schrilles Krächzen erklang. Ein großer Rabe flog auf und kreiste über ihren Köpfen.
»Tötet das Mistvieh!« brüllte der Bischof ärgerlich, doch ke i ner seiner Söldner hob seine Waffe. Golo schlug hastig ein Kreuzzeichen, und aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie es viele der Ritter und Söldner ihm gleichtaten.
Jehan war zu einem seiner Männer getreten und riß ihm den Bogen aus den Händen. Wütend zog er die Sehne der Waffe bis weit hinter sein Ohr zurück und schickte dem Raben einen Pfeil hinterher. Doch das Geschoß verfehlte sein Ziel. Noch einmal zog der schwarze Vogel einen Kreis über dem Heer und krächzte schrill, so als wolle er sie herausfordern. Dann flog er nach Westen, dorthin, wo der Wald mit dem Trophäenbaum lag.
Volker lehnte an der Brüstung der innersten Umwallung und blickte auf die Stadt hinab, die sich inmitten des Nebels ve r barg. Zunächst hatte er geglaubt, er sei tatsächlich
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