Nibelungen 05 - Das Runenschwert
Graufells Hufe eine warzige Alte getroffen, die auf dem Boden hockte und apathisch eine brüchige Tonschale hochhielt. »Wo hast du deine Augen, Junge? War der Nachtritt so anstrengend, daß du jetzt im Sattel einschläfst?«
»Verzeiht«, murmelte Siegfried und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter.
Der Graue Geist war verschwunden.
Sie näherten sich dem Dom, der an der Stelle des vor einigen Jahren niedergebrannten Stiftes entstand. Einige Gebäude waren bereits fertig, andere noch im Bau. Die Steinmetze, Mörtelmischer, Maurer, Zimmerleute und Dachdecker schufteten hier wie jeden Tag, ohne Rücksicht auf den Besuch des Friesenkönigs.
»Der Herrgott hat seine Gläubigen gut im Griff«, meinte Reinhold spöttisch, während er beobachtete, wie vier kräftige Männer in einem Tretwerk schweißnaß auf der Stelle liefen, um einen mächtigen Steinquader auf das Baugerüst zu hieven. »Jedesmal, wenn ich nach Xanten komme, entdecke ich eine neue Kapelle oder einen neuen Turm. Wenn Bischof Severins Leute so weitermachen, wird bald ganz Xanten mit Kirchenbauten überzogen sein.«
»Die Burg gewiß nicht«, sagte Siegfried. Er sprach völlig ernst und ging nicht auf Reinholds Spott ein. Sein Blick ruhte auf den Türmen, Zinnen und langgestreckten Wehrmauern der Burg, die sich am Rheinufer erhob. Über ihr, auf dem Burgfried, wehte das königliche Banner im Wind.
Hier war Siegfried aufgewachsen. Von hier würde er bald über die Niederlande herrschen. Dieser gewaltige Klotz, zusammengesetzt aus unzähligen dicken, festen Steinen, war ihm schon als Kind wie das größte Bauwerk auf Erden erschienen. Der Dom wuchs zwar, aber konnte er jemals die Xantener Königsburg übertreffen?
Unmöglich!
Auch zur Landseite hin schützten die Wasser des Rheins das Bollwerk. Ermöglicht wurde das durch breite Gräben rings um die Burg. Aber heute waren alle Zugbrücken heruntergelassen. Emsige Betriebsamkeit herrschte auch hier. Herolde und Dienstmannen ritten ein und aus. Beladene Wagen und Maulesel zogen in den Burghof, brachten Vorräte, um die hohen Gäste aus dem Norden angemessen zu bewirten.
Die beiden staubbedeckten Reiter wurden erst erkannt, als sie das große Torhaus erreicht hatten. Ein Diener wollte sie zur Königin führen, aber Reinhold meinte, er und Siegfried sollten sich erst frischmachen. Sie beeilten sich mit dem Bad in der dampfstickigen Badestube, die an diesem Tag so überfüllt war, daß sie sich einen der großen Fichtenholzzuber teilen mußten.
Sie trafen Königin Sieglind im großen Festsaal, wo sie dem Kämmerer, dem Mundschenk und dem Truchseß Anweisungen für die bevorstehende Empfangsfeier gab. Sieglind war eine beeindruckend schöne Frau, obwohl ihre Kleidung schlicht und schwarz war wie immer seit jenem Tag, als die heimkehrenden Recken ihr die Kunde von König Siegmunds Tod gebracht hatten. Viele Fürsten hatten seitdem um sie geworben, aber seltsam, Sieglind schien ihrem Gemahl die Treue bis über den Tod hinaus zu halten. Oft sprach sie gar von ihm, als lebe er noch.
Ein Lächeln zog über ihr ebenmäßiges Gesicht, als Reinhold und Siegfried auf sie zuschritten. Siegfried wollte die ehrfürchtige Verbeugung seines Zuchtmeisters nachahmen, aber Sieglind streckte die Arme aus und zog den Sohn an sich.
»Groß und stark bist du geworden, wie dein Vater«, sagte sie anerkennend. »Früher hätte dein Kopf an meiner Brust geruht, jetzt muß ich zu dir aufsehen, wenn ich mit dir spreche.«
Siegfried fühlte sich ein wenig verlegen. Er wußte nicht, ob er sich gegenüber der Mutter als Edelmann oder als Sohn verhalten sollte, hier, vor aller Augen.
Die Königin wollte den Truchseß beauftragen, den Gästen Speise und Trank zu bringen, als ein Bote meldete, daß die friesischen Schiffe vor Xanten erschienen waren. »Jetzt werdet ihr König Hariolf mit knurrenden Mägen empfangen müssen«, seufzte Sieglind und strich dem Sohn zärtlich über das Haar. »Aber du solltest dich umziehen, Siegfried. Dein ledernes Wams und die einfache Hose mögen einem Schmied gut zu Gesicht stehen, aber der zukünftige König der Niederlande sollte ruhig ein wenig prunken.«
Als er zu seiner Mutter und einer Anzahl edler Herren auf einen der Rheintürme stieg, trug Siegfried ein golddurchwirktes Gewand aus feinstem friesischem Tuch, das Sieglind für ihn mit Rücksicht auf die Gäste ausgesucht hatte. Seinen Umhang zierte das Wappen des Xantener Königshauses: auf blauem Grund ein roter Falke,
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